Die ganze Wahrheit im Ortsverein
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Eröffnet am: | 20.04.05 16:04 | von: ADDY | Anzahl Beiträge: | 3 |
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Die ganze Wahrheit im Ortsverein
Von Philipp Wittrock, Duisburg
Es funktioniert. Die Heuschreckentheorie, die Kritik an "international forcierten Profitmaximierungsstrategien", an der "Macht des Kapitals" - Franz Münteferings rhetorischer Klassenkampf spricht der sozialdemokratischen Stammkundschaft aus der Seele. An der Basis herrscht wieder Aufbruchstimmung.
DDPMüntefering im Fußballstadion: "Er hat uns aus der Seele gesprochen" |
Knapp 230 Mitglieder zählt der Ortsverein der SPD. 32, vorwiegend ältere Semester, sind an diesem Abend in die Begegnungsstätte der Arbeiterwohlfahrt gekommen, "eine Zahl, die mich mutig macht", wie der Landtagsabgeordnete Rainer Bischoff später sagen wird. Die Konkurrenz ist groß: Ein Deutscher ist gerade zum Papst gewählt, im Fernsehen läuft Fußball-DFB-Pokal: Schalke gegen Bremen.
Hannelore Richter, seit sieben Jahren Vorsitzende des Ortsvereins, ist zufrieden. Die Stimmung sei schlecht gewesen in jüngster Zeit, die Wahlergebnisse mies. Richter selbst verlor bei den Kommunalwahlen 2004 nach 15 Jahren ihr Ratsmandat, auf Duisburgs sonst rotem Oberbürgermeisterstuhl sitzt mit Adolf Sauerland erstmals seit 50 Jahren ein Christdemokrat. Doch nun geht ein Ruck durch die Basis. Dank Franz. Mit seinen markigen Sprüchen von Investoren, die wie Heuschrecken alles leer fräßen, und seiner Kritik an der "Macht des Kapitals" trifft der SPD-Chef auf fruchtbaren Boden. Niemand bedient sich des gleichen Vokabulars, aber "das, was der Müntefering da gesagt hat", kommt an. "Er hat uns so richtig aus der sozialdemokratischen Seele gesprochen", sagt Hannelore Richter. Diese Formulierung ist an diesem Abend häufiger zu hören.
Münteferings "Befreiungsschlag"
Philipp WittrockMitglieder des Ortsverein Duisburg-Rumeln-Kaldenhausen: Es herrscht wieder Aufbruchstimmung |
Wenn Hermann Illian sich nicht richtig sicher ist, wiegt er den Kopf hin und her und öffnet und schließt wortlos seinen Mund, mehrmals hintereinander. Der Schriftführer des Ortsvereins, der einmal Politiklehrer war, tut das nicht nur, wenn man ihn fragt, ob Münteferings Attacken auf den Kapitalismus früher hätten kommen müssen. Er tut es auch, wenn er einschätzen soll, ob der Lagerwahlkampf des SPD-Chefs Ministerpräsident Peer Steinbrücks Werben um die Wechselwähler störe. Er glaube nicht, sagt er schließlich, so wie einige andere an diesem Abend. Man sieht es als Risiko, das eingegangen werden muss. "Es musste was geschehen, um die Leute zu mobilisieren", sagt Illian. Die nun ausgebrochene Diskussion ist in seinen Augen folgerichtig. "Leute, die die Wahrheit sagen, haben nicht alle gern", sagt der 64-Jährige. Oskar Lafontaine habe auch immer die Wahrheit gesagt.
Auch Rainer Bischoff sagt: "Ich sage Euch die Wahrheit." So untermauert er seine Argumente, die er in einem atemberaubenden Tempo vorträgt, immer wieder. Wenn er die Zunahme bei der Arbeitslosenzahl in seinem Wahlkreis als Folge der ehrlicheren Statistik erklärt; wenn er die Reduzierung des Taschengeldes für die Senioren eines örtlichen Pflegeheims als bestmöglichen Kompromiss verkaufen muss; wenn er sagt, dass es mit der SPD in Nordrhein-Westfalen keine Studiengebühren für das Erststudium geben wird.
Doch so viel Wahrheit, so viele Sachargumente wollen einige der lokalen Genossen gar nicht hören. "Mir hat das sozialdemokratische Gefühl gefehlt, das Gefühl der Solidarität", sagt ein Zuhörer nach Bischoffs 45-Minuten-Vortrag an die Adresse des Abgeordneten. "Statistik gegen Statistik aufzurechnen, das kann keiner mehr hören." Die Basis will mehr Münte. Man sollte die Aussagen des SPD-Chefs noch viel mehr in den Vordergrund stellen, fordert ein betagter SPDler.
Der SPD-Chef hat kein Glaubwürdigkeitsproblem
APSchröder und Müntefering: Was ist Sozialdemokratie? |
Aber der Star des Abends ist der Parteichef, er schwebt über allem. Für heute Abend könnte das große Willy-Brandt-Porträt im Awo-Saal getrost gegen eines des Sauerländers ausgetauscht werden. Der SPD-Boss hat hier kein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn er Unternehmer als Demokratieschädlinge angreift und die Regierung gleichzeitig die Körperschaftsteuer für Unternehmen senken will. Hier glaubt man nicht an bloße Wahlkampfrhetorik, sondern an eine Wiederauferstehung sozialdemokratischer Grundwerte, die sich auch langfristig auswirken wird.
22 Genossen des Ortsvereins hätten allein im vergangenen Jahr aus Enttäuschung über die Politik der Bundesregierung ihr Parteibuch zurückgegeben, sagt Hannelore Richter. Mit Münteferings Worten im Rücken möchte sie die Abtrünnigen nach der Wahl am 22. Mai alle aufsuchen und zu einer Rückkehr in die Partei bewegen. Dann soll auch ein neues Seminar angeboten werden. Titel: Was ist Sozialdemokratie?