Seid Ihr für den EU-Beitritt der Türkei?


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Neuester Beitrag: 23.03.04 00:37
Eröffnet am:17.02.04 09:45von: BeMiAnzahl Beiträge:257
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8309 Postings, 8614 Tage maxperformancePharisäerhaft sind vor allem die

 
  
    #151
24.02.04 10:33
versuche von Rot-Grün den Türkei-Beitritt als
Wahlkampfthema zu tubuisieren, dabei
sind Ihnen die Türken mehr
als egal es geht nur um Machterhalt durch
einbebürgerte Wählerstimmen.

Ähnlich wie es Kohl mit den Russlanddeutschen
in den 80ern gemacht hat.

Den Schaden hat wie immer die Stammbevölkerung.

gruß Maxp.  

42940 Postings, 8493 Tage Dr.UdoBroemmeMal ein Artikel aus der Zeit zum Thema

 
  
    #152
24.02.04 11:05
Türkischer Honig

Sind Muslime die wahren Christen? Sind Frauen mit Kopftüchern wirklich frei? Was die Türkei Europa lehren kann - Begegnungen mit Istanbul

Christian Schüle

Der volle Mond steht über dem Bosporus, und abends, auf dem Weg ins Morgenland, verkaufen schnauzbärtige Männer Rosen und Tulpen und Maroni und Sesamringe. Die Straße nach Asien ist verstopft, auf der viertgrößten Hängebrücke der Welt von Istanbul-Ortaköy nach Istanbul-Beylerbeyi herrscht das allabendliche Chaos: Hunger und Glaube treiben die Menschen zur exakt bestimmten Minute an den Familientisch; wer nicht hupt, lebt nicht. Gerade versinkt die Sonne hinterm westlichen Horizont, magenta ist der Himmel, in den die Kuppeln der Moscheen ragen. Dann, exakt um 16.39 Uhr, knistern die Lautsprecher an den Minarettbalkonen, und in Demut steigt der Muezzin ein: „Allah ist groß, kommet und erhebet euch…“ Polyfon verkünden jetzt 2340 Sänger die Erlaubnis zum Abendmahl – hält der eine eine lange Note, hört man nebenan den anderen ansetzen, verharrt die Stimme des einen oben, fällt die des anderen herab. Istanbuls Muslime essen ab 16.41 Uhr. Es ist Ramadan in Europa, und es ist Ramadan in Asien.

Auf dem direkten Weg vom Abend- ins Morgenland, über die weitgespannte Bosporusbrücke, endet Europa geografisch und symbolisch: als exklusive, zunehmend gottlose Kultur- und Wertegemeinschaft, deren Nenner, wie derzeit stets beschworen wird, universelle Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seien. Was hier angeblich endet, sagten und sagen deutsche Historiker, sei die Geschichte der Antike, der Renaissance, der Reformation, der Aufklärung und der Wissensrevolution. Was hier an seinem Ende sei, sei kurzum das Christentum und die Sprache seiner Selbstbeschreibung. Die muslimische Türkei, wo Troja, Ephesos und Pergamon liegen, ist jenes Land, das einem ratlosen Europa die Definitionsarbeit abnimmt: Das Europäische bestimmt sich über das, was nicht mehr europäisch sein soll – obwohl es dies partout sein will.

Auf dem EU-Gipfel in Helsinki 1999 wurde der Türkei der Kandidatenstatus in Aussicht gestellt. Bundeskanzler Gerhard Schröder betreibt die Anbindung der Türkei derzeit mit Verve, unterstützt von Frankreichs Staatspräsident Chirac. Inzwischen plädierte sogar Erzfeind Griechenland für die türkische EU-Mitgliedschaft, und die amerikanische Regierung sieht den Nato-Partner Türkei als europäischen Schlüsselstaat zur islamischen Welt und forciert deren EU-Beitritt aus erheblichem Eigeninteresse. Just haben die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder der Türkei in Kopenhagen den Beginn von Beitrittsverhandlungen im Jahre 2005 in Aussicht gestellt. Viele politische Brücken hat das Land seither errichtet, manche in der Tat, manche im Geist. Europa aber ist streng. Europa hat rationale Motive, vereinbarte Sitten, Prinzipien politischer Kultur. Europa definiert sein Selbstverständnis gegen das Kulturfremde, wie es sich bei einem Mann wie Ali Özgentürk offenbart.

Goethe, Lessing, Özgentürk

Die Augen: fast schwarz. Der Teint: dunkel. Die Haare: dunkelgrau gelockt. Der Handschlag: fest. Das Lachen: raumfüllend. Die Stimme: bassig. Schwarzes V-Shirt, schwarzer Schal, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Ali Özgentürk, Sohn eines Berbers, wurde in einem Dorf an der türkisch-syrischen Grenze geboren, etwa sechzig Jahre ist das her. Er ist Muslim. Vielleicht ist er Europäer. Zwanzig Filme hat er gedreht. Sein erster erhielt 1980 auf europäischen Festivals zahlreiche europäische Preise. Ein Film über eine anatolische Dorfliebe. Man mochte die exotische Komik. All seine Filme kritisierten die türkische Politik und den Dogmatismus der Eliten. Mehrmals saß er im Gefängnis, wurde gefoltert.

Ali Özgentürk ist eine Art türkischer Fassbinder, ein medienscheuer Exzentriker. Ein Philosoph der Künste ist er allemal: „Kennt ihr da drüben türkische Bücher, türkische Filme? Nein, aber wir kennen eure Schriftsteller und eure Filme.“ Wir – das heißt die ganze, sagen wir: die halbe Gesellschaft, nicht allein die geistige Elite der Türkei, und Ali Özgentürk führt Goethe an, Heine, Lessing, fügt Baudelaire und Rimbaud hinzu, sagt: „Vergangen“, und fährt fort: „Unsere Zivilisation ist die Poesie und Philosophie aus China, Japan, dem Iran, Arabien. Eure ist die Ökonomie.“ Weil sie den Westen kopieren, weil sie plagiieren und imitieren wolle, habe die Türkei sich selbst entfremdet. Mit lauter werdender Stimme, bei Fisch und Raki, spricht der Regisseur vom kulturellen Selbstmord. „Die Schönheit der Türkei“, sagt er, „besteht darin, sie nicht zu verstehen.“ Er lacht, nimmt seine junge, blonde Frau an die Hand, geht hinaus in die milde Istanbuler Winternacht und dreht sich noch einmal um. „Auch der Westen wird bald moderne Propheten brauchen.“

Unter der Hängebrücke hindurch, Stadtviertel Ortaköy, bevorzugte Hanglage, sitzt, im orangefarbenen Gebäude seiner Alarko-Holding, mit Blick auf den Bosporus und die Büyük-Mecidiye-Moschee, der 75-jährige Geschäftsmann Ishak Alaton. Er sagt, während sich ein dickbäuchiger Tanker nordostwärts in Richtung Schwarzes Meer fortschraubt: „In der Türkei gibt es keinen, absolut keinen Antisemitismus.“ Alaton ist Jude, in Istanbul geboren, er war Offizier der türkischen Armee, dann Arbeiter in Schweden. Sein Unternehmen wird im nächsten Jahr 50, es konstruiert Flughäfen und Brücken in Russland und dem Mittleren Osten, in Turkmenistan und Kasachstan. Im Regal steht Marx’ Kapital, Fotos zeigen die Alatons als Großfamilie, von draußen dringt das Rauschen der Autos herein, die oben, auf der Hängebrücke, von Europa nach Asien und von Asien nach Europa fahren. Alaton sagt, er sei türkischer Europäer. Er ist eine Art Offenbarung der Allgemeinvernunft – Alaton der Weise, wenn man so will, denn er teilt die Vision der Lessingschen Ringparabel. „Keine Mentalität ist aufgrund ihrer Geschichte so religionstolerant wie die türkische.“

Die Türken kennen die üblichen Argumente gegen sie, die widerstreitenden Positionen, die gehegten Vorurteile und gepflegten Ressentiments: West gegen Ost, Individuum gegen Umma, Selbstbestimmung gegen Scharia, Aufklärung gegen Dunkelheit, Menschenrecht gegen Gotteswort. Sie kennen die diffuse Islamfurcht und die in Europas kulturelles Gedächtnis eingesickerte Angst vor dem Wilden, Rohen, Fremden, den säbelschwingenden Osmanen ante portas, Wien 1683, sie kennen die versöhnungsresistenten Fronten im Ringen um eine Definition dessen, was gemeinsame Kultur sein könnte und was nicht. Der Konflikt, kurzum, gipfelt in der Frage: Können Islam und Christentum koexistieren, können ihre Lebensformen einander dulden?

In einem Nu dann, in Ishak Alatons schnörkelloser Diktion, erhält die Frage der befürchteten Türkisierung Europas und der ersehnten Europäisierung der Türkei einen fast heiligen Ernst. „Europas Christen haben eine völlig falsche Vorstellung von der Türkei als einer vorrangig monolithisch muslimischen Einheit. Die Türkei ist in erster Linie multikulturell, dann republikanisch und zuletzt auch muslimisch. Es kümmert hier keinen, ob Frauen verschleiert oder in Miniröcken gehen oder Männer im Ramadan rauchen oder fasten. Jeder kann machen, was er will.“

Eben das ist beinahe tragisch: In der Tat konnte bisher in der Türkei nicht jeder machen, was er wollte. Aus Angst, die manche Phobie, andere Paranoia, dritte Irrsinn nennen, hat – in seiner Sehnsucht nach Verwestlichung – der türkische Staatsapparat im Namen der Zivilisation jede islamische Regung unterdrückt: Parteienverbot, Anklagewut, politischer Bann. Frauen ist es bis heute nicht erlaubt, Kopftuch in Schulen und Universitäten zu tragen oder im öffentlichen Dienst mit Kopfbedeckung zu arbeiten; die Verfassung verbietet die öffentliche Verwendung islamischer Anreden wie Hoca oder Effendi.

Der bewusste Verstoß gegen demokratische Grundprinzipien im Namen der Demokratie hat seine Wurzeln im Jahre 1923. Damals trug der Bürgerkriegsheld Mustafa Kemal Pascha in einer Art friedlichen französischen Revolution das Ottomanische Reich zu Grabe. Er schaffte das Kalifat ab, die Polygamie, ersetzte die arabische durch die lateinische Schrift, tauschte den Islamischen gegen den Gregorianischen Kalender. Er wechselte Monarchie gegen Republik, wandte dem Orient den Rücken zu und schrieb eine Verfassung nach europäischem Vorbild: italienisches Strafrecht, deutsches Handelsrecht, schweizerisches bürgerliches Gesetzbuch. Er verordnete der just geschlüpften Republik einen prinzipiellen Laizismus, die Trennung von Kirche und Staat. Der General hatte für seine Republik ein Ziel: die Zivilgesellschaft in einer pluralistischen Demokratie. Es war die Geburt einer Obsession aus dem Geist der Utopie. In den nachfolgenden Dekaden wurde der Marsch auf säkularen Pfaden in die europäische Zivilisation zur mentalen Diktatur. Jener Mann, der keine offene Geistlichkeit mehr wollte, der areligiös war und Gott aus öffentlicher Rede und Politik verbannte, wurde von seinen Nachfolgern zu einem Heiligen erhoben. Noch heute entkommt man seinen Ikonen nicht: man sieht ihn zu Pferde, zu Fuß, zu Hause, sinnierend, posierend, in Büsten, Statuen, Fotos, Gemälden, man liest ihn aus Sprüchen und Aphorismen heraus, den Gott der säkularen Republik, den Vater der Türken: Atatürk.

Laszive Posen in Rodeojeans

Vor der Blauen Moschee in Sultanachmed, Istanbuls Altstadt, wo es aufs Erste keine sichtbare Atatürk-Ikone gibt, essen langbärtige Mittdreißiger kleine pralle Würste, sitzen Frauen, schwarz und dunkelblau verschleiert, auf dem staublosen Boden, Schmuck und Textilien anpreisend. Nebenan, im alten konstantinopolitanischen Hippodrom, fängt eine junge Grazie mit Rodeojeans in lasziver Pose Männerblicke ein, während ein grauhaariger Uhrenhändler mit braungefärbtem Schnauzer am Obelisken zwei blondierten Russinnen auf Plateausohlen begegnet. Mütter, Väter, Kinder, Paare flanieren, aus den Buden stampft türkischer Pop, im Zelt wird für die Türken türkischer Bauchtanz zelebriert, Marktschreier in osmanischem Kostüm samt weinrotem Fez preisen süße Mandelmilch, Straßenkehrer pellen Pistazien, Beinlose bitten um Almosen, und introvertierte Träumer werben sanft für geistliche Literatur, und über allem hängt ein Transparent: Ramadan is the hope for all the world.

Vor der Blauen Moschee ist Kirmes, organisierte Fröhlichkeit zur Feier des Propheten, vor sieben Jahren ins Leben gerufen vom damaligen Oberbürgermeister Recep Tayyip Erdogan, der vor kurzem die gesamte Atatürkei zur Implosion brachte und seither weltgewandte Sozialdemokraten wie islamische Gelehrte in seltsame Verzückung versetzt. Von einer fantastischen Chance für die Türkei redet die gesamte Presse des Landes, von der Chance auf ein Musterbeispiel islamischer Demokratie, da auch Erdogan ein vom Laizismus gebranntes Kind sei, vom Staat verfolgt, drangsaliert, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, eingesperrt und vorbestraft, weil er 1998 ein Gedicht des Nationalisten Gokalp vom Anfang des 20. Jahrhunderts rezitierte: „Die Moscheen sind unsere Kasernen / die Kuppeln unsere Helme / die Minarette unsere Bajonette / und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Mit dem, wie es heißt, „historischen“ Sieg von Erdogans gemäßigt islamischer Partei Gerechtigkeit und Erneuerung (AKP) bei den Parlamentswahlen am 3. November hat ein neues Zeitalter begonnen. Eine politische Supernova. Die Verbannung der korrupten, gegen jede Volksfrömmigkeit mit der Sensibilität eines osteuropäischen Politbüros agierenden Links-Parteien durch das frei entscheidende Volk: die Sehnsucht nach Ehrlichkeit. Der Sieg der neuen Freiheit. Wahre Demokratie. Europatauglichkeit. Nichts in den ersten Aussagen und Taten der von ihm gesteuerten AKP-Regierung deutet darauf hin, dass die Hoffnung des Volkes enttäuscht werden soll – wenn es später etwa, sollte Erdogan im In- und Ausland erst einmal akzeptiert und legitimiert sein, eine Refundamentalisierung der Türkei geben könnte. Die vornehme und vornehmliche Lesart des „neuen Zeitalters“ ist folgende: Demokratie in Europa wäre das Recht jeder Frau, kein Kopftuch zu tragen; Demokratie unter Erdogan ist das Recht jeder Frau, ein Kopftuch zu tragen. Die Türkei ist auf der Suche nach ihrer Seele, und Erdogan will Europa, wie sie alle Europa wollen, weil „Europa“ Wohlstand heißt und Freiheit. Und Erdogan will die Demokratie, weil er sie selbst braucht. Das ist weitgehend Konsens in der gegenwärtig erwartungsfrohen Türkei. Selbst Abdurraham Dilipak ist zuversichtlich.

Oben, auf der asiatischen Seite Istanbuls, hügelwärts auf Kopfsteinpflaster durch einen Park mit Feigenbäumen, steht ein Restaurant, dessen kleiner Pavillon das Imitat eines sultanischen Haremsgemachs im Topkapi-Palast ist. Leer ist der Saal, halb drei am Nachmittag, zwei Stunden vor Iftar, wie die Zeit heißt, da Muslime im Heiligen Monat wieder essen dürfen. Beflissene Ober mit Fliege und in weißem Hemd decken kurzbeinige Tische für eine der Ramadan-Großgesellschaften. Auf einer niedrigen Couch mit geblümten Polstern, gegenüber dem Kamin, sitzt, die Beine von sich gestreckt, ein stattlicher Mann mit großer getönter Rundbrille, dunkelgrauem Haarkranz und schwarzem Vollbart. „Professioneller Angeklagter“, stellt sich Abdurrahman Dilipak vor, Autor von 45 Romanen, Essays und Betrachtungen, Maler, Judotrainer, Kolumnist und Theologe und eine der einflussreichsten Stimmen des konservativen, fundamentalistischen Lagers.

Hundert Klagen hat der türkische Staat über die Jahre gegen Dilipak angestrengt, siebzehn Prozesse wegen Verstoßes gegen den Laizismus sind zurzeit gegen ihn anhängig – immer wieder haben er und seine Freunde der Bürgergruppe „Gedankenfreiheit“ dem laizistischen Establishment verbotene Islamismen entgegengeschrien: „Effendi!“, „Hoca!“ Erst schrie einer und dann, als der Staat reflexhaft klagte, auch die anderen. Sie haben sich sogar das Recht genommen, die ewigen, unveränderlichen zehn Paragrafen der säkularistischen Verfassung auf ihre Richtigkeit zu hinterfragen, was in der Türkei niemand ohne weiteres tun darf. „Wir haben etwas gemeinsam“, sagt Dilipak, „die Politiker und Historiker bei euch und bei uns haben zu gleichen Teilen ein sehr niedriges intellektuelles Niveau, sie spielen mit Ängsten, statt mit Hoffnungen zu handeln.“

Aus dem sonoren Gleichklang einer pessimistischen Weltbetrachtung schält sich rasch Dilipaks Leitmotiv heraus: die Verschmelzung von islamischer und christlicher zur einer eurasischen Kultur. Ost wie West – einerlei, alles gehört Gott allein. Eine Theokratie lehnt er ab, weil der wahre Islam den Gottesstaat überhaupt nicht zulasse. Zwischen dem Einzelnen und Gott kann niemals eine Organisation stehen, weder Staat noch Kirche, der Islam ist kein hierarchisiertes Organisationssystem wie das Christentum. „Wir wollen nichts weiter als eine wahre Demokratie: Grundrechte, Menschenwürde, Toleranz gegenüber Andersdenkenden. In der Türkei ist es ein Verbrechen, religiös zu sein und zugleich Freiheitsrechte zu verlangen.“

99 Namen Gottes

Im Teehaus an der Fatih-Moschee trinkt niemand Tee, niemand Alkohol, niemand raucht Wasserpfeife, niemand Zigarette. Es ist früher Nachmittag, 16 Männer sitzen an sechs Tischen. Zwei lesen Zeitung, andere spielen mit der Tesbih, drehen die 33 Kugeln ihrer Gebetskette, drei Runden, bis die 99 Namen Gottes durch sind, manche murmeln, dann drehen sie erneut, und sie drehen, bis es dunkel wird. Geredet wird nicht. Ein Greis döst mit dem Kopf auf der Tischplatte, die anderen stieren auf den Fernseher unter der Decke, auf Canal 7 läuft ein Zeichentrickfilm, und das Quaken der Figuren ist der einzige Laut im Raum. Die Fenster sind beschlagen, die Luft ist verbraucht, und an der eierschalfarbenen Wand hängt, vis-à-vis dem Poster mit kalligrafisch zarten Suren, ein Gemälde von General Atatürk im Pelzmantel.

Fatih ist das, was Europa nicht sein will und nach Meinung deutscher Christdemokraten und manch anderer auch nicht sein soll. Das an Istanbuls Altstadt grenzende Viertel ist der Spiegel einer anderen Welt. Die Frauen gehen im Çarsaf, jener Ganzkörperverhüllung aus schwarzer Kunstseide, oder sie gehen mit Kopftuch. Stets gehen sie aufrecht. Sie kaufen frische Sardinen, Brot und Stoffe im Textilgeschäft, das Tekbir heißt wie der erste Schrei des Muezzin, Tekbir verkauft Frauenkostüme in Hellbraun, Tücher und Pullover in Rot, Hellblau und Lila. Die Patisserie an der Ecke zur Moschee heißt, übersetzt, „Ich tue es in Gottes Namen“. In Fatih begrüßt man sich mit Salam aleikum, und über die trostlosen Straßen, durch die allein die Nachmittagsgesänge des Muezzin schallen, schiebt ein Sperrmüllhändler von gerade 15 seinen holpernden Wagen.

Zuerst war es die auf gut Glück hingeworfene Frage an einen alten Mann vor der unbestuhlten Terrasse eines Teehauses:

„Salam aleikum, vertragen sich Ihrer Meinung nach türkische und europäische Kultur?“

„Ach was“, sagt der Mann und hebt seine Mütze, „die Türken sind doch viel zu dumm…“ (die anderen horchen auf) „…wozu braucht die EU unsere dummen Bauern und Zigeuner?“

(Junge Männer, die Lederjacken tragen, kommen hinzu, Alte mit Anzug und grauem Vollbart, es entspinnt sich eine Debatte über das Verhältnis von Christentum und Islam, Europa und Orient)

„Wir müssen mit aufgenommen werden.“

„Aber unser Geld ist tot. Amerika hat unser Geld getötet.“

„Und die Christen werden sich nicht ändern.“

(Einer spuckt aus, eine Möwe kreischt, der Sardinenverkäufer macht großen Umsatz)

„In Bosnien hat man es gesehen: Christen und Muslime passen nicht zusammen…“

„…doch nur, weil die Toleranz gefehlt hat…“

„Und die Frauen, das Kopftuch, die Unterdrückung?“, wirft man dazwischen.

„Der Koran sagt, die Frau soll sich bedecken…“

„…das hat neulich auch der Imam gesagt.“

„Jede soll doch gehen, wie sie will.“

„Ja, Hauptsache, die Mentalität ist menschlich.“

(Drei vermummte Frauen, schwarzer Umhang, mit Kindern an der Hand, kommen vorbei. Der Teehausbesitzer beginnt, Stühle auf die Terrasse zu stellen)

„Europa ist viel fortgeschrittener als wir Türken…“

„Die Türkei soll so werden wie Deutschland: korrekt und ordentlich.“

„…was der Islam uns vorschreibt, das wird doch heute in Europa verwirklicht.“

„Was wäre denn heute das typisch Islamische – die alten osmanischen Werte?“

„Hilfsbereitschaft, ja, und…“

„…oooh, wir können feiern, Hochzeit, Verlobung, Beschneidung, Schulabschluss, das sollten Sie mal erleben, Musik, Tanz, das Essen…“

„…und Gastfreundschaft…“

„…und Offenheit.“

„Letztlich sind wir alle Brüder“, sagt der Alte, zieht seinen Ausweis aus der Tasche, rückt die Mütze gerade und stellt sich als Osman vor, Jahrgang 38, 16 Jahre bei Mannesmann in Düsseldorf gearbeitet, 16 Jahre!

Jene, die für einen EU-Beitritt ihres Landes kämpfen, wissen, dass die Türkei noch nicht reif ist für Europa. Noch immer gibt es eine Willkürjustiz, allzu schnell anklagende Staatsanwälte, eigenmächtige Staatssicherheitsgerichte, Korruption. Noch immer spielt das Militär, selbst ernannter „Wächter der Demokratie“, eine aktive, unrühmliche, jedenfalls erhebliche Rolle im Staat. Noch immer werden Kinder in den Schulen nicht animiert, ihre Meinung zu äußern. Noch immer kursieren Berichte über Folter und systematische Unterdrückung politischer Opponenten, einfacher Krimineller, vor allem Kurden und auch Minderjähriger. Noch immer sind in ländlichen Gebieten Frauen in ihren Häusern eingesperrt, werden Mädchen gegen ihren Willen verheiratet. Und bis heute genießen türkische Polizisten den Ruf äußerster Brutalität.

Das alles soll sich, als groß angelegtes Plädoyer für die türkische Europareife, gleichsam aus dem Stand ändern. Ministerpräsident Abdullah Gül sagte nach seinem Amtsantritt Mitte November, seine Regierung werde die Europäische Union „mit der Umsetzung vieler Reformen schockieren“. Die Metamorphose hat bereits begonnen. Vergangenen August, unter der alten Mitte-links-Koalition Bülent Ecevits, hatte das türkische Parlament, ganz ohne Widerstand des Militärs, die so genannten Anpassungsgesetze an die EU verabschiedet und damit den „Kopenhagener Kriterien“ (freie Marktwirtschaft, Menschenrechtsschutz, Minderheitenregelung) ostentativ Folge geleistet, Ende November bereits legte die neue AKP-Regierung ein Paket von 36 Gesetzesänderungen nach. Das heißt: Abschaffung der Todesstrafe (auch in Kriegszeiten), Verbot der Folter, Ende der Straffreiheit von Polizisten, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, freier Gebrauch der kurdischen Sprache, Kurdischunterricht und kurdische Rundfunkkanäle. Schon 2001 ist eine Zivilrechtsreform über die Bühne gegangen, die vor allem die rechtliche Stellung der Frau verbesserte. In Polizeischulen soll darüber hinaus künftig Menschenrechtsunterricht stattfinden, Ärzten, die falsche Gutachten ausstellen, droht der Approbationsentzug. Aus europäischer Sicht ist all das selbstverständlich, aus türkischer eine hoch emotionale Selbstverwandlung. Hat sich die Türkei auf einmal zu einem demokratischen Staat im westlichen Sinne gestanzt?

Yusuf Alatas möchte das so nicht unterschreiben. Er ist Rechtsanwalt in Ankara und Vizepräsident des türkischen Menschenrechtsvereins. „Natürlich haben wir westliche Standards noch nicht erreicht.“ Verglichen mit der Situation vor wenigen Jahren aber, da im Osten des Landes Angeklagte kein Recht auf einen Anwalt hatten, da die U-Haft ohne Anklage Monate gedauert habe, da systematisch gefoltert wurde, sei die Lage sehr viel besser geworden. Alatas lobt die neuen Gesetze und verweist auf das bessere Klima seit der Verhaftung des PKK-Führers Öcalan 1999 und der Erklärung der PKK, die Waffen niederzulegen. „Den neuen Gesetzen muss jetzt ein neues Bewusstsein, der Wille von Polizei und Militär zur Ausführung folgen. Noch werden die Folterer von einst nicht ernsthaft belangt.“ Die Türkei habe Europa in der Vergangenheit oft genug belogen, sagt Alatas, habe Menschenrechtsabkommen unterschrieben, sich dann aber nicht daran gehalten. Im Fall eines EU-Beitritts der Türkei könnte der große Menschenrechtspädagoge Europa seinen neuen Zögling zur zivilgesellschaftlichen Reife erziehen. Solche Hilfe wünschen sich nicht wenige.

Direkt am Marmarameer, in Eminönü, nicht weit vom Topkapi-Palast, dort, wo die besten Kalligrafen des Landes ihre kleinen Studios haben, steht die Kleine Hagia-Sophia-Moschee und zerfällt. Ihr rotbäckiger Imam ist 34 und, wie alle Imame, Angestellter des Staates, dessen Direktorium für Religiöse Angelegenheiten die Vorbeter bezahlt. Der Imam der Kleinen Hagia-Sophia-Moschee heißt Achmed und trägt einen verlotterten hellgrünen Anzug.

Frage: „Unterdrückt der Islam die Frau?“

„Der Koran“, sagt Imam Achmed, „schreibt vor, dass die Frauen sich bedecken sollen.“

„Ist der Islam vereinbar mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frau?“

Das Kopftuch, meint der Imam, sei eine Art Gebet, das Gott den Frauen vorgeschrieben habe.

„Die Frau wird also in ihren Grundfreiheiten nicht eingeschränkt?“

„Nein, der Islam misst der Frau einen sehr hohen Wert bei.“

„Welchen?“

Ein Zug nach Westen rauscht vorbei. Das letzte Laub des vergehenden Herbstes rieselt in die Vorhalle der Kleinen Hagia-Sophia-Moschee, die als byzantinische Kirche unter Kaiser Konstantin entstand. Der Imam schweigt.

„Welchen Wert misst der Islam den Frauen bei, Imam Achmed?“

Der Imam überlegt. Er überlegt lange. Es ist still. Kinder spielen Fußball. Der Imam spielt mit den Fingern. Er starrt aus dem Kabuff. Dann zitiert er den Koran. Ein Zug fährt ostwärts, der Boden bebt. Nein, dem Imam fällt zum hohen Stellenwert der Frau nichts ein.

Koran und sexuelle Freiheit

Nach viel reflektierter und unreflektierter Begeisterung über die Metamorphose der Türkei und die zahme, die tolerante, die türkische Variante des wahren Islam ist es an der Zeit, nach Asien zu fahren und die Frage nach der sexuellen Selbstbestimmung von Ayse Kucur zu stellen. Sie wohnt in Istanbul-Kadiköy, 20 Autominuten vom europäischen Zentrum entfernt. Die vier Brüder Kucur, ihre Frauen und Kinder haben sich beim Ältesten zum Freitagsmahl eingefunden.

Die Oberschichtfamilie Kucur ist eine konservative Familie: Die Frauen tragen Kopftücher, sind schweigsam; während die Männer reden, bereiten sie das Essen. Im ganzen Zimmer hängen gerahmte Drucke, ausgewählte Suren und arabisch verfasste Kalligrafien des Namens Allah. Sadi, der Älteste, ist Professor für Mittelalterliche Islamgeschichte an der Marmara-Universität, Ayse ist Sadis Frau und Englischlehrerin am Gymnasium. Ayse Kucur war einmal die jahrgangsbeste Studentin, ihr Englisch ist akzentfrei. Sie trug das Kopftuch, weil der Prophet das vorschreibt. Deshalb erhielt sie keine Lehrerlaubnis als Universitätsdozentin.

Ayse hat gekocht. Es gibt mehrere Gänge: Linsensuppe, Reisfleisch, Hühnchenbrust, Salat, Käse, Tee und Früchte. Die Kinder tollen herum, aus dem Rekorder schweben die Klänge der klassischen Bambusflöte. Das Thema des Abends soll die Fusion der Kulturen sein, dann aber kommen auch die anderen Fragen zur Sprache. Die Offenheit ist bemerkenswert, die Selbstkritik erstaunlich: Gewiss müsse die Türkei das Problem mit dem Kopftuch endlich lösen, und ja, man habe versäumt, den eigenen Islam nach dem 11. September als gewaltfrei und offen darzustellen. Während die vier Frauen abräumen und auftragen und die schreienden Kinder ermahnen, entbrennt eine Tischdebatte über individuelle Freiheit, universelle Werte, Freizügigkeit und Gleichstellung der Frau. Allmählich reden die Brüder sich in Rage.

Sadi: „Europa will seine Vorurteile nicht aufgeben.“

Samil: „Für uns ist die westliche Kultur keineswegs vollkommen.“

Sadi: „Wohin führen uns denn die Freiheiten, die uns Europa anbietet? Einsamkeit und Verzweiflung.“

Samil: „Wir glauben an den islamischen Sufismus, der lehrt, Selbstsucht sei schlecht. Das ist schwer vereinbar mit westlicher Kultur.“

Der Gast: „Sie werfen dem Westen eine korrumpierte Moral vor?“

Sadi: „PR für sich, diese Egomanie finden wir unhöflich. Das höchste Ziel ist nicht der einzelne Mensch, sondern Gott. Wir plädieren für etwas mehr Demut.“

Tee ist eingeschenkt, die Kinder sind nebenan. Es ist so weit. Ayse Kucur ergreift das Wort. Es herrscht absolute Ruhe. „Ich“, sagt Ayse, „fühle mich überhaupt nicht unterdrückt, weder sexuell noch sonstwie. Ich möchte das Kopftuch tragen, und jede, die das nicht will, soll es nicht tun.“ Und dann fallen die Sätze, die den zum Staunen bereiten Gast aus dem Westen verblüfft zurücklassen. „Je mehr man den Regeln des Koran gehorcht“, sagt Ayse, „desto freier ist man. Frauen, die das Kopftuch tragen, machen vom individuellen Recht auf die Freiheit des Willens Gebrauch. Das ist wahre Freiheit.“

Der Muezzin lädt zum 19-Uhr-Gebet, die Männer stürmen, manche barfuß nach ritueller Fuß- und Gesichtswaschung am Brunnen im Innenhof, in die Laleli-Moschee, wo der Imam bereits Allah besingt: „Erhebt euch zum Gebet fürs Jenseits und für die Freiheit.“ Die Gläubigen suchen ein freies, abschließbares Kästchen, in das sie ihre Schuhe stellen können, ein letztes Husten, totale Stille. Niederfallen. Aufstehen. Niederfallen.

Wird Europa anatolisiert?

Die Liturgie einer tiefen Verbundenheit mit einem Gott, der, nach Aussage des Islamgelehrten Abdurrahman Dilipak, der gleiche sei, den die Christen anbeten. Er sei, sagt Dilipak, in keiner Hinsicht Europäer. Er sei Anatole. Adam, Noah, Abraham, der Prophet, die Armenier, Griechen, Christen, die Juden, ja auch die Teufelsanbeter seien aus dem anatolischen Kernland gekommen. „Es ist das Tor der Welt, durch das seit je Kulturen und Völker gehen und zusammentreffen. Dieses Land ist nicht die Türkei. Dieses Land ist heilig.“

Dilipaks Ausführungen heißen, zu Ende gedacht, dass bei einem Beitritt in die EU nicht die Türkei europäisiert, sondern Europa anatolisiert, an seine Wurzeln angeschlossen wird. „Es kann keine Kultur geben, die für das Zusammenleben besser geeignet ist als die anatolische.“

„Sie meinen also, wir haben dieselben Werte in Ost und West?“

„Wenn ich richtig informiert bin, gibt es auch im Westen Humanität und Frieden.“

Welche Süffisanz! Dilipak verbannt jeden Spaß.

„Wussten Sie, dass die größten Heroen der europäischen Zivilisation Muslime waren?“

„Aha…“

„Goethe und Kant. Die besten Scharniere zwischen euch und uns.“

Die Türkei, sagt Dilipak im Gehen, sei die letzte Chance für Europa, den erstarkenden Islam zu verstehen. „Sehen Sie sich Europa an – vier Millionen Muslime leben in den EU-Staaten. Wir sind doch schon längst da!“

Die Mitgliedschaft der Türkei in der EU ist, bei aller multikultureller Träumerei, letztlich ein Kosten-Nutzen-Kalkül. Die Inflation ist so hoch, dass eine zehnminütige Taxifahrt 30 Millionen Lira kostet; das türkische Jahresbudget reicht nicht, um die Zinsen zu tilgen, das Bruttosozialprodukt ist nicht höher als das einer deutschen Großstadt, wegen der Armut ihrer Eltern können zwei Millionen Kinder nicht zur Schule gehen. Aber.

Sodann legt Mehmet Altan los. Der Weg sei entscheidend, so der Professor für Ökonomie an der Istanbul-Universität und Mitbegründer der Initiative Europäische Bewegung 2002, ein erklärter Linker. „Die Türkei wandelt sich gerade von Grund auf, atmet den europäischen Geist, den viele andere Beitrittskandidaten nicht atmen. Wenn die EU die Türkei jetzt zurückweist, wird sie zu einer endgültigen Selbstverwandlung nicht mehr fähig sein und nach Osten abdriften.“ Was einer als Mahnung verpackten Bitte gleichkommt und zu folgender Pointe führt: „Die Kultur eines Landes ändert sich mit den wirtschaftlichen Produktionsbedingungen. Es geht jetzt nicht mehr um die Frage: Christ oder Muslim?, sondern darum, ob die Gehirne fähig sind, sich den globalen Herausforderungen anzupassen. Wir leben im postindustriellen Zeitalter, aber Europa stellt die Fragen des vergangenen Industriezeitalters.“

In der Parteizentrale der einzig verbliebenen Oppositionspartei CHP ist das neue Büro von Kemal Dervi≠. Der Wirtschaftswissenschaftler war Vizepräsident der Weltbank, kam in die Türkei zurück, wurde unter den Reformwilligen zum Messias stilisiert, bereits als künftiger Ministerpräsident gehandelt und ging als Staatsminister für Wirtschaft vor eineinhalb Jahren in die Regierung Ecevit, die er mit seinem vorzeitigen Rücktritt zum Einsturz brachte. Recht besehen, ist Dervi≠, wider Willen, verantwortlich für den Sieg der AKP.

„Jetzt haben wir klare Strukturen und klare Mandate. Die Atmosphäre im Land hat sich seit der Wahl sehr verbessert.“ Dervi≠ verkauft die Türkei als Beispiel einer unerhörten Gesundung, der kranke Mann am Bospurus ist ein vorbildlicher Rekonvaleszent: seit Jahrzehnten freie Marktwirtschaft, die Industrie stärker als die vieler osteuropäischer Länder, die Türkei um 50 Prozent reicher als Rumänien und Bulgarien, das Wirtschaftswachstum 2003 mit fünfeinhalb Prozent das höchste in ganz Europa. „Die Wirtschaftskrise ist bewältigt.“

Man darf das Land kritisieren, aber man muss es erst verstehen wollen, das verlangen die Türken. Sie wissen, dass sie den Preis für den Terror des bin Laden, der Selbstmordattentäter und islamistischen Brandstifter auf Bali und in Kenia zahlen. Und das Erste, was sie meist sagen: Die Türkei ist nicht al-Qaida. Die Türkei ist nicht Arabien. Die Türkei pflegt einen anderen Islam. Der türkische Jude Alaton nennt ihn humanistisch-offen, von jedem Fanatismus weit entfernt.

Andersherum gefragt: Was gewänne Europa mit der Türkei? Warum sollte man ein Volk mit vornehmlich ländlichen Strukturen, 40 verschiedenen ethnischen Identitäten und 20 verschiedenen Glaubensrichtungen als Teil einer neu zu schaffenden Identität begreifen? Man gewänne, sagen so unterschiedliche Geister wie Altan und Alaton, Dilipak und Dervi≠ gleichermaßen, neue Ideen, neue Menschenbilder, kulturelle Vielfalt; man gewänne die wertvolle Anbindung an die erstarkende islamische Gemeinschaft; man gewänne das in jeder Hinsicht bedeutsame Scharnier zum östlichen Teil der Einen Welt, die Pionierleistung einer islamischen Demokratie, als Signal an Iran, Syrien, Irak; hinzu kämen unschätzbare Gold-, Borax- und Ölressourcen. Eine europäische Türkei, so die Synthese, sei die beste Waffe gegen Angst vor dem extremistischen Islamismus. „Sehen Sie nach Europa“, sagt Ilnur Cevik, der in England geborene Chefredakteur und Herausgeber der Turkish Daily News in Ankara, „die Gesellschaften sind im Begriff, ihre Normen zu verlieren, der christliche Glaube nimmt ja stetig ab, Werte wie Respekt vor den Alten oder der Familie verschwinden. Die Türkei könnte helfen, diese gemeinsamen Werte wieder zu stärken.“ Und über all die geostrategischen und polittaktischen Kalkulationen hinaus, heißt das schließlich, gewänne man das Östliche zurück, ohne welches das Westliche nicht denkbar ist.

Kranke Seelen im Westen

Der halbe Mond steht über dem Bosporus, goldgelb. Fern hört man die Straßenbahn heransurren, aus einer unsichtbaren Ecke, aus einem geöffneten Fenster erklingt die asiatische Flöte. Istanbul-Gülhane, dritter Stock, wenige Meter von Hagia Sophia und Blauer Moschee entfernt. Zwanzig Personen sitzen im Raum des Zentrums für Musiktherapie Tümata und zupfen und schlagen Rübab, Kopuz und Tar und singen mit geschlossenen Augen. Sufi Oruc Güvenc, der seit 20 Jahren Seminare im Westen abhält, doziert über kranke Seelen in kranken Körpern: „Die Menschen im Westen haben schon alles erlebt und gehabt, sie sind leer. Mensch und Geist sind auseinander getreten.“

Und dann, für kurze Zeit, geraten die Musizierenden in die heilende Nähe der zentralasiatischen Meditations- und Ekstasemetaphysik aus dem 13.Jahrhundert, die vor einigen Jahren auch im Westen wiederentdeckt wurde, das spirituelle Mehr hinterm reinen Rationalismus. Sufi Oruc schließt die Augen, spricht langsam und ohne Modulation. „Jetzt merken die Menschen im Westen, dass es viele Gefühle gibt, die ihnen nicht bewusst waren – Liebe, Treue, Geduld, Gelassenheit. Die Türkei kann dem Westen helfen, zu sich selbst zu finden.“ Dann spielt der Sufi die Flöte in zarter Melancholie, und für lange Zeit hört er nicht mehr auf, und nebenan knistern die Lautsprecher, und dann ruft der Muezzin zum Gebet.

Aus: DIE ZEIT 52/2002


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16600 Postings, 8041 Tage MadChartAha...

 
  
    #153
24.02.04 11:36
„Die Menschen im Westen haben schon alles erlebt und gehabt, sie sind leer. Mensch und Geist sind auseinander getreten.  Nun...wenn das so ist...dann wäre es doch wirklich besser, wenn Ihr Euch nicht der EU anschließt. Nicht, dass es Euch auch irgendwann so geht wie uns...  

129861 Postings, 7549 Tage kiiwiiEx Oriente Lux ??

 
  
    #154
24.02.04 11:44
will uns das die ZEIT sagen ?

Wenn Ihr was über die Türkei wissen wollt, ohne immer so lange Artikel der alten Tante ZEIT lesen zu müssen, schaut Euch mal "Lawrence von Arabien" an.  

6506 Postings, 8377 Tage BankerslastFortschrittlich

 
  
    #155
24.02.04 12:01
Da sage einer, die Türkei sei nicht fortschrittlich. Beispiel Familienplanung.  In der Türkei ist Pflicht, vor einer Vermählung eine Untersuchung zu machen zum Ausschluß von Erbkrankheiten. Nicht gesund, nix Heirat. Sollte bei uns auch praktiziert werden. Vielleicht wird in 30 Jahren wieder was aus dem dekadenten, destruktiven Deutschen Michel.  

9123 Postings, 8692 Tage ReilaBankerslast, das war doch alte dt. Tradition.

 
  
    #156
24.02.04 12:06
Und Fehlexemplare wurden entsorgt.

Aber natürlich wäre es sinnvoll und verantwortlich, Erbkrankheiten einzudämmen. Allerdings ist das ein schwieriges Thema in D., zumal auch der Staat schon mehr als ausreichend in unser Leben eingreift.  

6506 Postings, 8377 Tage BankerslastReila ich denke Du konntest

 
  
    #157
24.02.04 12:10
einen gewissen Sarkasmus aus meinen Zeilen herauslesen.

Grüße, BL  

1025 Postings, 8276 Tage J.R. EwingTypisch ZEIT

 
  
    #158
24.02.04 12:20
Abgehobenes, langatmiges Intellektuellen-Geschwätz geschrieben von Autoren, die in schmucken Hamburger Villenvierteln residieren, fernab von den harten Realitäten ihrer multikulturellen Blütenträume.

Eine Aufnahme der Türkei in die EU wäre weniger eine kulturelle Bereicherung für Europa als vielmehr eine nicht zu bewältigende Belastung für die Sozialsysteme und die Staatshaushalte der EU-Mitgliedsstaaten. Davon betroffen wäre vor allem Deutschland - als größter EU-Nettozahler und als das Land mit der größten türkischstämmigen Bevölkerung in Europa.

J.R.  

4428 Postings, 7868 Tage Major TomGermans must think about redefining themselves

 
  
    #159
24.02.04 13:06
Germans must think about redefining themselves

I spent my formative adult years in England and represent not only a creation of a plurality of cultures, but a bridge between them - particularly now that we have a sister social democratic government in Germany.

To take an example illustrating common purpose, Germany and Britain face similar problems concerning pension provision. Both countries must find a way to finance pensions, but because of the differences between the fundamental structures of social insurance, the solutions will not be generic. If a common purpose is admitted, there are many possibilities for constructive co-operation.

The same goes for the nationality and immigration. In Germany, nationality has always followed the principle of jus sanguinis, the primacy of bloodline, which makes my children German because I am German, irrespective of the fact that I lost my German nationality when I applied for British citizenship. Children of Turkish descent will never become German, irrespective of how many generations of their family have been born and have lived in Germany. The new government has attempted to address this issue, and I applaud it. But it is a controversial issue.

I would suggest the time has come for Germany and the Germans to think seriously about redefining themselves by territorial boundaries and their institutions rather than bloodline. It is perhaps slightly paradoxical that the German national identity that has developed since the war is one that is inextricably linked to the development of democratic and inclusive institutions bound by a written constitution. Yet legal citizenship still turns on a seemingly archaic notion.

Historians have spent a long time pondering the question of whether history is cyclical or linear. Looking at the past 50 years of the Federal Republic, the Germany we are analysing today is fundamentally different from the political formations that have made up the German past. For the first time, the German nation state is fulfilled. The events of 3 October 1990 have written the final chapter to Germany's anomalous century. Before that, there were always unanswered questions as to how and where the German state would evolve. Germany has resolved its territorial anxieties, and so it would now appear that the question that remains is that concerning the identity of those living within its borders.

For the first time in its history, the German population can have a full measure of both unity and freedom. According to the Treaty on German Unity of 1990, the preamble to the Basic Law will be altered in such a way that the sentence calling for "completion" of Germany will be replaced with one that reads, "The Basic Law is hereby valid for the entire German people." The old debates as to whether German identity is determined by national tradition or commitment to a constitution have been resolved. The German nation state will be the structure created by the democratic institutions of the Basic Law. The two have become identical.

For the first time in history, the Germans have formed a union not in the face of opposition from their neighbours but based on their consent. The newly reunified Germany is no longer perceived as a threat to peace in Europe. Integration on an economic, military and political level means that this cannot be reversed.

Finally, and this is most significant for me and my situation, for the firts time in its history the German nation state is irrevocably tied to the West. It took a revolution to make this intention clear. It took a revolution in the truest sense from a people who wanted to share in the liberal values of Western order.

Gisela Stuart, German-born Labour MP. From a speech at the Goethe Institut, London

Anm.: Bankersl. (mit gewissem Sarkasmus): "Vielleicht wird in 30 Jahren wieder was aus dem dekadenten, destruktiven Deutschen Michel." - Definition: Der deutsche Michel spielt eine vergleichbare Rolle in der politischen Karikatur wie der britische John Bull, der amerikanische Onkel Sam und zum Teil auch wie die französische Marianne: er ist eine nationale Personifizierung, ein visuelles Symbol. Mehr als seine "Partner" spiegelt er die eigenen Vorstellungen der Deutschen über ihren Charakter wider.

Meinung: Der "deutsche Michel" ist weder dekadent noch destruktiv; VIELLEICHT ist das Problem eher/zum Teil (immer noch) in der Grundregel: "Das Recht des Blutes: jus sanguinis" und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen zu lokalisieren wie es in der Rede von Gisela Stuart zum Ausdruck kommt; zumindest erscheint mir dieser Aspekt diskussionswürdig. Dieses Posting wäre eigentl. gut für einen neuen Thread, allerdings passt es irgendwie zu dem aktuellen Thema.
 

26 Postings, 8132 Tage JesseWas machen die anderen?

 
  
    #160
24.02.04 13:19

Wie stehen eigentlich die anderen Länder der EU dazu?

Sehe ich das falsch wenn ich sage, dass der deutsche Kanzler wieder Mist macht und wieder versucht von den eigentlichen Problemen abzulenken?

Außerdem ist es wahrscheinlich wahltaktisch klug die Stimmen der paar Mio. wahlberechtigten Türken in Deutschland auf seiner Seite zu haben!

 

 

 

 

13475 Postings, 9144 Tage SchwarzerLordBestens formuliert, J.R.Ewing.

 
  
    #161
24.02.04 13:19
Kurz auf den Punkt gebracht! Lob dafür!  

91 Postings, 7455 Tage faulersackFakt: Döner finde ich zum kotzen

 
  
    #162
24.02.04 13:34
geographisch: Nur westlich des Bosporus ich schätze 5% der
Staatsfläche der Türkei liegt auf europäischem Gebiet, der
ca. 95% liegt in ASIEN, im mittleren Osten

politisch: In der Türkei gibt es noch die Todestrafe, auch für zweifelhafte Vergehen gibts Isolationshaft. In türkischen Gefängnissen ist Gewalt an der Tagesordnung.
Der Staat ist nicht in der Lage sein Volk ausreichend mit Medikamenten zu versorgen und die Armee hungert regelrecht.

Das Kurdenproblem kam auch nicht von ungefähr.

Ein solches Land hat nach meiner Meinung in der EU nichts verloren.
Nicht falsch verstehen: Ich habe überhaupt nichts gegen Türken in Deutschland, jedoch generell etwas gegen den EU Eintritt der Türkei, bei dem die USA der grösste Befürworter ist.
Kiiwii hat Recht, warum haben vor ca. 500 Jahren tausende Solaten Ihr Leben gelassen.

Ich hätte sehr gern die Einführung der französischen Sprache in den USA und ein generelles Verbot der englischen Sprache *g*

 

4428 Postings, 7868 Tage Major TomLügen haben keine Ahnung!

 
  
    #163
24.02.04 14:03
[...] politisch: In der Türkei gibt es noch die Todestrafe [...]

EU-Beitritt
Türkei schafft Todesstrafe in Kriegszeiten ab

09. Januar 2004 Eineinhalb Jahre nach der teilweisen Abschaffung der Todesstrafe durch das türkische Parlament ist die Regierung in Ankara am Freitag noch einen Schritt weiter gegangen: Die Türkei verpflichtete sich mit der Unterzeichnung eines  internationalen Abkommens, nicht nur in Friedens-, sondern auch in Kriegszeiten auf die Todesstrafe zu verzichten. Die EU-Kommission, die Ende des Jahres über die mögliche Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Türkei entscheiden will, begrüßte den Schritt.

Nach Angaben des Europarats in Straßburg unterzeichnete der  türkische Botschafter bei dem Staatenbund, Numan Hazar, das Zusatzprotokoll 13 zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Diese Übereinkunft sieht den Verzicht auf die Todesstrafe „unter allen Umständen“ vor. „Die Todesstrafe ist abgeschafft. Niemand kann zu  einer solchen Strafe verurteilt oder hingerichtet werden“, heißt es in Artikel eins des Protokolls. Damit der Text in der Türkei in Kraft tritt, muß er noch vom Parlament in Ankara ratifiziert werden.

Anm.: Die Todesstrafe ist demnach in der Türkei «unter allen Umständen» abgeschafft. Für Friedenszeiten hatte das Parlament in Ankara bereits im August 2002 die Todesstrafe aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. (nz)

 

42940 Postings, 8493 Tage Dr.UdoBroemmeEs geht hier um Beitrittsverhandlungen!

 
  
    #164
24.02.04 14:11
Alle(auch die türkischen Politiker) sind sich einig, dass es noch mindestens 10 Jahre braucht, bis die Türkei die Kriterien für einen Beitritt erfüllt.

Eine Zurückweisung der Türkei würde dort aber die fundamentalistischen Kräfte enorm bestärken.

Jeder sollte selbst überlegen, was für Europa besser ist.
Eine fundamentalistisch ausgerichtete Türkei an der Ostgrenze Europas oder eine westlich orientierte, demokratische Türkei, die sowohl als Bindeglied zwischen Europa und Asien fungieren würde als auch als gangbares Modell für andere Staaten mit weitgehend moslemischer Bevölkerung dienen könnte.


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4428 Postings, 7868 Tage Major Tom@Doc, das ist einfach zu visionär,-) obwohl ich

 
  
    #165
24.02.04 14:28
persönlich der Meinung bin, der Weg aus dem Kokon führt über konstruktive Visionen, denn sie sind der Wegweiser, die aus dem Jammertal herausführen! Aber "Stöhnen", "Klagen" und "Horrorvisionen" kommen nun einmal besser an, gerade dann, wenn die alten Jammersätze automatisch und reflexartig wieder hochkommen.

MT

PS Bestens formuliert, Dr.UdoBroemme. Kurz auf den Punkt gebracht! Lob dafür! (In diesem Fall, gerne kopiert von SchwarzerLord)  

6431 Postings, 8128 Tage altmeisterwas sollte sich denn bitte ernsthaft in

 
  
    #166
24.02.04 14:37
einem land in 10 jahren ändern welches noch heute in der mehrzahl so lebt wie vor 1000 jahren?


meine güte hat der mann visionen.

kopschüttelnd
altmeister  

91 Postings, 7455 Tage faulersackRe

 
  
    #167
24.02.04 14:41
Die Frage ist, was für ein Europa soll geschaffen oder erhalten werden. Soll es ein loser und belangloser Wirtschaftsklub werden?
Soll es in der Tradition von Montanunion, EWG, EG und EU sein. Wenn wir einen "global Player" installieren wollen, der verstärkt in Konkurrenz zur USA stehen soll, so wäre die Türkei noch lange nicht reif - liegt die Türkei nach einer aktuellen Studie nicht hinter Rumänien, was den Wirtschafts- und Lebensindex angeht?
Im Anschluss daran stellt sich natürlich auch die Frage - wenn wir schon den Kontinent verlassen wollen (nach Asien überschreiten) - warum dann nicht auch Israel mit in die EU aufnehmen. Oder die Maghreb-Staaten?
Ich meine, wir erweitern uns zu Tode wenn wir diese Aufnahme zulassen. Ein Beitritt der Türkei zur jetzigen EU wäre das Ende der EU. Besser wir ändern vorab den Name in  "Globalisierungsgemeinschaft Eurasien" oder ähnlich.  

91 Postings, 7455 Tage faulersackAltmeister meinst Du man oder wirklich Mann

 
  
    #168
24.02.04 14:43
was ist dann mit Frau?  

6431 Postings, 8128 Tage altmeisterich gehe davon aus das udo ein mann

 
  
    #169
24.02.04 14:44
ist und meinte mann und nicht man.  

1025 Postings, 8276 Tage J.R. Ewing@Dr. Broemme

 
  
    #170
24.02.04 14:52
Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ist eine Vorentscheidung. An ihrem Ende steht mit hoher Wahrscheinlichkeit die Aufnahme der Türkei in die EU. Das ist kein ergebnisoffener Prozess. Werden die Verhandlungen begonnen, dann wird die Türkei EU-Mitglied. Die Frage ist dann allenfalls noch, zu welchen konkreten Bedingungen.

Es ist schon richtig, dass die Türkei zunächst bestimmte Kriterien erfüllen muss, bevor es zu einer Aufnahme in die EU kommt. Die Frage ist aber, ob nicht eben dieser Kriterienkatalog überdacht werden sollte. Der stellt bislang vor allem auf politische Faktoren wie Menschenrechte, demokratische Strukturen usw. ab. Die sind sicherlich wichtig. Mindestens genauso wichtig aber sind die ökonomischen Rahmenbedingungen. Eine Türkei, deren Wirtschaftsleistung pro Kopf nur bei 22% des EU-Durchschnitts liegt, die der größte Schuldner des Internationalen Währungsfonds ist und die wegen ihres rasanten Bevölkerungswachstums in knapp 10 Jahren 80 Mio. Einwohner mit entsprechender Arbeitslosigkeit haben wird, macht mir für Deutschland weit mehr Sorgen als das Kopftuchverbot oder die Todesstrafe.

@Major Tom: Vielleicht kommen "Stöhnen", "Klagen" und "Horrorvisionen" auch deshalb beim Publikum so viel besser an als hehre Visionen, weil die Bedenkenträger speziell in der Europapolitik so oft recht behalten haben.

J.R.  

4428 Postings, 7868 Tage Major Tom@altmeister

 
  
    #171
24.02.04 14:55
dass es krasse (Einkommens)Unterschiede zwischen West- und Osttürkei gibt, das bestreite ich persönlich nicht, aber deine Aussage: "welches noch heute in der mehrzahl so lebt wie vor 1000 jahren?" möchte ich einmal in Frage stellen. Ich werde versuchen, deine Angabe mit Zahlen zu widerlegen (bei Gelegenheit), so ad hoc kann ich das nicht belegen.

MT

PS Türkei: Grundlinien der Wirtschaftspolitik

Die Wirtschaftspolitik der Türkei steht im Spannungsfeld zwischen tief verwurzeltem Etatismus und Dirigismus (in osmanischer und kemalistischer Tradition) und einem seit den 80er Jahren zunehmenden marktorientierten Reformschub, der binnen- und außenwirtschaftlich auf Liberalisierung setzt und durch die EU-Beitrittsperspektive neuen Ansporn bekommen hat. Die von Wirtschaftsminister Dervis (Frühjahr 2001 bis August 2002) im Einvernehmen mit EU und IWF eingeleiteten Strukturreformen (u.a. Autonomie der Zentralbank, Transparenz des Bankenwesens und staatlichen Ausschreibungsverfahrens, Öffnung der Märkte für Telekommunikation und Energie, Reformen im Sozialversicherungssystem und der landwirtschaftlichen Subventionspolitik) werden von der AKP-Regierung seit November 2002 konsequent fortgesetzt. Auch in die Privatisierung der überwiegend ineffizienten und verschuldeten Staatsbetriebe ist eine gewisse Dynamik gekommen - trotz nach wie vor bestehender politischer Einzelinteressen und der derzeit ungünstigen internationalen Wirtschaftslage.


 

4428 Postings, 7868 Tage Major Tom"deine Angabe mit Fakten zu widerlegen" = besser o. T.

 
  
    #172
24.02.04 14:58

42940 Postings, 8493 Tage Dr.UdoBroemme@J.R.

 
  
    #173
24.02.04 15:16
Das sehe ich etwas anders.

Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt wäre in erster Linie ein politisches Signal, eine Stärkung der jetzigen Regierung mit ihrem rasanten Reformtempo.

Immerhin bewegen sie sich auf einem schmalen Grat zwischen den immer noch mächtigen Militärs, den fundamentalistischen Strömungen und den Reformisten.  Wie gesagt, eine Zurückweisung durch Europa würde die Türkei in ihrer politischen und wirtschaftlichen Entwicklung wahrscheinlich um Jahrzehnte zurückwerfen und sie gleichzeitig in die Arme der Fundamentalisten treiben.
Das kann wirklich niemand ernsthaft wollen.

Ob am Ende die Aufnahme der Türkei in die EU steht und vor allem wann, das sollte man diskutieren, wenn es aktuell wird. Termine sind dehnbar, Kriterien können angepasst werden...

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6431 Postings, 8128 Tage altmeisterspar dir die zeit ich weiß wie die leben

 
  
    #174
24.02.04 15:18
vieleicht sind es keine 1000 jahre aber 950 allemal


 

6506 Postings, 8377 Tage Bankerslastselbst aus den SPD-Reihen

 
  
    #175
24.02.04 15:18
kommt Kritik an Schröder-Initiative:

aus T-Online


"Man kommt dann nicht mehr raus aus der Sache"


Der Türkei-Kurs des Kanzlers stößt auf ein geteiltes Echo. Selbst in den Reihen der SPD wird Kritik laut. Am Montag hatte Gerhard Schröder Ankara seine Unterstützung für den umstrittenen EU-Beitritt zugesichert. "Die Türkei kann sich darauf verlassen."



Glotz: Nicht vernünftig
Die Aufnahme der Türkei in die EU sei "weder finanzierbar noch im Sinne eines einigen Europas vernünftig", kritisierte Ex-SPD-Geschäftsführer Peter Glotz. CDU-Chefin Angela Merkel habe mit ihrem Vorschlag einer "privilegierte Partnerschaft" die richtigen Worte gefunden. So würden keine falschen Hoffnungen gemacht, aber auch nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen, sagte Glotz dem Fernsehsender N-TV.


"Erwartungen dämpfen"
CDU-Europa-Experte Matthias Wissmann warf Schröder vorschnelle Äußerungen vor. "Ich kann dem Bundeskanzler nur raten, die Erwartungen, die in der Türkei bestehen, zu dämpfen und sie nicht anzuheizen", sagte er der "Leipziger Volkszeitung". Sein Parteikollege Friedbert Pflüger warnte, mit der Aufnahme von Verhandlungen würde der Beitritt "de facto versprochen". In der ARD sagte der Außenpolitiker: "Man kommt dann nicht mehr raus aus der Sache."


Stoiber: Finanzierung im Auge behalten
Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber geht noch einen Schritt weiter: Er hält auch den für Anfang 2007 anvisierten EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien für falsch. "Mehr als die Osterweiterung zum 1. Mai mit zehn neuen Mitgliedstaaten ist erst mal nicht möglich", sagte der CSU-Chef der "Passauer Neuen Presse". Die Erweiterung hänge auch von Finanzierungsfragen ab. Das gelte noch mehr für einen EU-Beitritt der Türkei.


Menschenrechtler haben Bedenken
Kritik kam auch von Amnesty International: Es gebe bei der Durchsetzung der Menschenrechte in der Türkei zwar Fortschritte. Schwere Folterungen seien im vergangenen Jahr nicht dokumentiert worden. Gleichwohl seien Schläge, Scheinhinrichtungen und Entführungen durch Polizisten in Zivil immer noch verbreitet, mahnte die deutsche Generalsekretärin Barbara Lochbihler in der Deutschen Welle.


Beitritt nicht zwangsläufig
Unterstzützung für den Kanzler kam hingegen von EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen: "Dahinter steckt eine große strategische Überlegung", die von allen europäischen Regierungschefs geteilt werde, sagte der Sozialdemokrat im Deutschlandfunk. "Nämlich, dass es für die politische und wirtschaftliche Sicherheit Europas in Zukunft zentral sein kann, ein Land wie die Türkei als einen festen und stabilen Partner zu haben." Zum Jahresende könnte die Türkei die Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen erfüllt haben, vermutet Verheugen. Es sei aber klar, dass am Ende des Prozesses nicht zwangsläufig ein Beitritt stehe.
 

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