Heute vor 70 Jahren !
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Eröffnet am: | 09.11.08 10:52 | von: 14051948Ki. | Anzahl Beiträge: | 22 |
Neuester Beitrag: | 09.11.08 22:27 | von: Zwergnase | Leser gesamt: | 6.835 |
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Vor 70 Jahren:
Novemberpogrome in Deutschland
Die "Reichskristallnacht"
Der 17 Jahre alte Herschel Grynszpan lebt seit zwei Jahren illegal in Paris. Anfang November 1938 erfährt der in Hannover geborene Sohn polnischer Juden, dass seine Familie aus Deutschland abgeschoben worden ist.
Doch Polen will sie nicht aufnehmen. Wie rund 17.000 andere abgeschobene Juden sitzen die Grynszpans an der Grenze fest. Am 7. November 1938 kauft sich Herschel Grynszpan in Paris einen Revolver und fährt zur deutschen Botschaft.
Dort gibt er fünf Schüsse auf den Botschaftssekretär Ernst vom Rath ab.
Zwei Tage später erliegt der Diplomat am Nachmittag seinen Verletzungen. In der selben Nacht kommt es im gesamten Deutschen Reich zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden. Synagogen werden in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte verwüstet, ihre Besitzer brutal misshandelt. Mehr als 400 Menschen werden getötet. Rund 30.000 werden verhaftet.
Viele werden in ein Konzentrationslager deportiert oder in den nächsten Monaten zur Flucht gezwungen.
Für die materiellen Schäden müssen in den nächsten Wochen und Monaten nicht die Täter, sondern die Opfer aufkommen. Die Juden werden gezwungen, die Spuren der Zerstörung zu beseitigen.
Versicherungsgelder gehen nicht an die jüdischen Geschäftsinhaber, sondern an den Staat. Die Juden müssen in einen "Scherbenfonds" ein sogenanntes Sühnegeld einzahlen - für, so die offizielle Begründung, "die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk". Insgesamt fließt so über eine Milliarde Reichsmark in die Staatskasse.
Die Novemberpogrome werden im Berliner Volksmund verharmlosend als "Reichskristallnacht" bezeichnet - ein Begriff, den die Nazis gerne übernehmen.
Propagandaminister Joseph Goebbels erklärt die judenfeindlichen Aktionen als spontanen Ausbruch des "Volkszorns".
Nach dem Zweiten Weltkrieg gilt lange eine andere Interpretation der Ereignisse: Adolf Hitler habe den Befehl gegeben, SA, SS und Gestapo hätten ihn ausgeführt, die Bevölkerung habe die Dinge ohnmächtig geschehen lassen.
Noch 1978 behauptet NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) auf einer Kölner Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag des 9. November: "Das deutsche Volk hat nicht die Hand an die Synagogen gelegt."
Mittlerweile wissen Historiker: Die Verbrechen sind längst nicht nur von SS und SA, sondern auch von ganz normalen Deutschen verübt worden, auffallend häufig in kleineren Städten und Gemeinden.
Viele Aktionen waren nicht von oben gesteuert.
Synagogen standen schon in Flammen, bevor der Befehl zur Brandstiftung ausgegeben wurde.
Angriffe auf Juden und Verwüstungen von jüdischen Geschäften gab es bereits am 7. und 8. November, unmittelbar nach Bekanntwerden des Attentats auf Ernst vom Rath.
In Österreich, seit dem Frühjahr 1938 Teil des Deutschen Reiches, gab es schon im Oktober solche Übergriffe.
Juden wurden auch noch attackiert, als die Führung in Berlin - besorgt um den Ruf im Ausland - längst ein Ende der Ausschreitungen angeordnet hatte.
Stand: 09.11.0
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Freitag gegen 17.40 Uhr, am Samstag um 18.40 Uhr und am Sonntag um 16.40 Uhr
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr)
erinnert am 9. November 2008 ebenfalls an die Novemberpogrome in Deutschland. ...
Am 9. November 1938 hatte Bavaud vergeblich versucht, Hitler in München anlässlich eines Aufmarsches der Nazis vor der Feldherrenhalle mit einem Revolver zu töten. Eine Woche später wurde er verhaftet. Am 18. Dezember 1938 wurde er vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und im Gefängnis Berlin-Plötzensee 1941 guillotiniert.
http://www.nzz.ch/nachrichten/panorama/...urice_bavaud_1.1229867.html
Presseerklärungen 07.11.2008
Synagogen im Überblick:
Über hundert nach 1945 errichtete Synagogen und Betsäle sind ab 9. November 2008 online
Was vor 70 Jahren undenkbar schien, ist heute Realität:
In Deutschland entstehen neue Synagogen – es gibt Grundsteinlegungen, Richtfeste und Einweihungen. Diese erfreulichen Ereignisse sind ein Zeichen für wiederaufblühendes jüdisches Leben. Inzwischen ist die Zahl der rituellen Einrichtungen – Synagogen, Betsäle, Friedhofsbauten –, die nach 1945 entstanden sind, auf über 100 angewachsen.
Aus diesem Grund gibt es auf der Homepage des Zentralrats der Juden in Deutschland ein neues „Synagogen Dossier". Das Kernstück bildet eine Datenbank mit den nach 1945 eingerichteten Synagogen, die nach verschiedenen Kategorien recherchiert werden kann. Außerdem gibt es eine Ansicht in Form der Deutschlandkarte und zahlreiche Fotos mit Innen- und Außenansichten.
Das Angebot entstand in Zusammenarbeit mit Dr. Ulrich Knufinke von der Bet Tfila Forschungsstelle für jüdische Architektur in Europa (www.bet-tfila.org) der TU Braunschweig und des Center for Jewish Art der Hebrew University of Jerusalem. Knufinke beschäftigt sich seit 2006 im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts mit der Architektur der neuen Synagogen und hat die Gestaltung, Intention und Rezeption jüdischer Gemeindeeinrichtungen seit 1945 systematisch zusammengetragen.
„Die zahlreichen Synagogeneinweihungen sind ein Indiz für neues jüdisches Leben in Deutschland", freut sich der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Prof. Dr. Salomon Korn. „Mit unserem neuen Internet-Angebot werden wir dieser erfreulichen Entwicklung gerecht und bieten Schulen, Wissenschaftlern und neugierigen Usern wichtige Einblicke an."
Gleichzeitig werden die von Dr. Knufinke zusammengetragenen Informationen in das bereits bestehende Synagogen-Internet-Archiv von Dr. Marc Grellert an der TU Darmstadt integriert. Hier sind über 2200 Synagogen erfasst, die vor 1933 gebaut worden sind und von denen der größte Teil vor 70 Jahren in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zerstört wurde.
Die ersten größeren Synagogenneubauten in Deutschland wurden bereits Anfang der 50er Jahre eingeweiht. Nach der „Neubauwelle" zwischen 1955 und 1965 ebbte die Bautätigkeit jüdischer Gemeinden ab, da die Mitgliederzahlen in den Gemeinden stagnierten und es keinen weiteren Bedarf gab.
Das sollte sich Anfang der 90er Jahre ändern: Mit der Zuwanderung von Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion hat sich die Situation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland grundlegend gewandelt. Die um ein Vielfaches erhöhten Mitgliederzahlen machten die Einrichtung entsprechender Räume notwendig. Dadurch wurde eine neuerliche Welle von Neubauten ausgelöst, die erfreulicherweise bis heute anhält. Zuletzt konnten in Krefeld und Bielefeld neue Synagogen eingeweiht werden. In Mainz wird dieser Tage der Grundstein für eine neue Synagoge gelegt und am 9. November werden in Göttingen und Lörrach Synagogeneinweihung gefeiert.
Ab sofort ist der neue Synagogenüberblick auf folgenden Internet-Seiten erreichbar:
www.synagogen.info
www.zentralratderjuden.de
Zeitpunkt: 10.11.08 20:26
Aktion: Löschung des Beitrages
Kommentar: Regelverstoß - nicht akzeptables wortspiel in diesem thread
Das da hätt' einmal fast die Welt regiert,
Die Völker wurden seiner Herr.
Jedoch ich wollte,
daß ihr nicht schon triumphiert:
Der Schoß ist fruchtbar noch,
aus dem das kroch .
Bertolt Brecht, Kriegsfibel, 1955
Nicht wegschauen!
In vielen Köpfen spukt wieder vermehrt "Großdeutsches Gedankengut" herum. Erneut wird die altbekannte, auf Menschenverachtung, Hass, Rassismus und Gewalt beruhende, braune Ideologie (mit den neuen Tendenzen in der Rechten Szene) gepredigt. Hass und Gewalt richten sich gegen die, die anders sind; die neonazistische Szene nutzt alle Medien zur Vermittlung ihrer rassistischen, antisemitischen und nationalistischen Inhalte.
Z.
und ich bin froh das mir diese jämmerlichen Nazis wirklich nur virtuell über den Weg laufen,weis Gott...
Wir sollten uns auf Strategien und Handlungsweisen gegen Rechts konzentrieren, rechte Tendenzen konkret bekämpfen. Dabei nicht auf deren Rabulistik eingehen, denn Täuschung, Irreführung und Lüge sind bekannterweise ebenfalls neu aufgelegte und verfeinerte Tendenzen in der Rechten Szene.
Z.
Gedenken an Pogromnacht vom 9. November 1938
"Entschieden gegen Antisemitismus vorgehen"
Mit Plakaten erinnert die Stadt Berlin an die Pogromnacht von 1938
Mit zahlreichen Gedenkveranstaltungen wird heute an die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten und die deutsche Teilung erinnert. Das Datum 9. November steht dabei für zwei Ereignisse: Die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung vor 70 Jahren und die Maueröffnung vor 19 Jahren. Zentrale Gedenkfeier in der Rykestraße
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einem "Tag des Gedenkens an die schrecklichsten Ereignisse deutscher Geschichte" und von einem "Tag, der auch Hoffnung macht und der uns verpflichtet, die Zukunft verantwortlich zu gestalten". Das Gedenken an den 9. November 1938 verpflichte die Deutschen, entschieden gegen Rassismus und insbesondere Antisemitismus vorzugehen, "und zwar gemeinsam, in der gesamten Gesellschaft", wie Merkel sagte.
Gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden wird die Bundesregierung an den 70. Jahrestag der Pogromnacht erinnern. Die zentrale Gedenkfeier findet in der Berliner Synagoge in der Rykestraße statt. Am Berliner Holocaust-Mahnmal werden Lebensgeschichten von 100 Opfern zu hören sein.
Auftakt zur systematischen Verfolgung
In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 hatten Nazis in ganz Deutschland Geschäfte und jüdische Gotteshäuser in Brand gesetzt, Wohnungen jüdischer Bürger demoliert und ihre Bewohner misshandelt. In der offiziellen Bilanz des Terrors waren 91 Tote, 267 zerstörte Gottes- und Gemeindehäuser sowie 7500 verwüstete Geschäfte verzeichnet. Nach Angaben des Deutschen Historischen Museums starben in Folge der Ausschreitungen aber weit mehr als 1300 Menschen. Die Reichspogromnacht war Auftakt der völligen Entrechtung der Juden in Deutschland, die mit dem millionenfachen Mord an der jüdischen Bevölkerung in ganz Europa endete.
Gedenken an Opfer der Pogromnacht 1938
In ganz Deutschland wird heute der Pogromnacht vor 70 Jahren gedacht.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesratspräsident Peter Müller werden an einer zentralen Gedenkveranstaltung der Bundesregierung und des Zentralrates der Juden in der Synagoge Rykestraße teilnehmen.
Merkel hatte am Vortag die Deutschen dazu aufgerufen, die Erinnerungen an den 9. November nicht zu vergessen – nicht nur wegen der Verpflichtung gegenüber der Opfer, sondern auch damit sich so etwas nie wiederholt. "Wir müssen immer wieder darüber nachdenken, wie es zu dem Holocaust, diesem singulären Ereignis, kommen sollte."
Als Ehrengäste sind Zeitzeugen aus dem In- und Ausland geladen. Weitere Veranstaltungen in Berlin sind am Mahnmal für die einstige Synagoge in der Levetzowstraße und am Jüdischen Friedhof geplant.
In Görlitz wird duie Neue Synagoge eröffnet
Doch auch in Sachsen werden die Opfer der Judenverfolgung von vor 70 Jahren mit Gedenkfeiern, Kranzniederlegungen und Gottesdiensten geehrt. In Görlitz soll die Synagoge wiedereröffnet werden. In Dresden wird Ministerpräsident Stanislaw Tillich den Förderpreis für Demokratie übergeben, in Leipzig und Chemnitz werden Kränze niedergelegt.
Am 9. November 1938 hatte Bavaud vergeblich versucht, Hitler in München anlässlich eines Aufmarsches der Nazis vor der Feldherrenhalle mit einem Revolver zu töten.
http://tagesschau.sf.tv/nachrichten/archiv/2008/...ter_maurice_bavaud
Der Schweizer Gesandte in Berlin habe das Attentat als «verabscheuungswürdige Tat» abgestempelt und sich geweigert, Bavaud zu besuchen oder sich für ihn einzusetzen, empört sich Rechsteiner. Gegen den Vorschlag, Bavaud gegen einen deutschen Spion auszutauschen, habe das Militärdepartement sein Veto eingelegt.
Die Katastrophe vor der Katastrophe
Von Raphael Gross 09. November 2008
Am 23. November 1938 schrieb der Kunstkritiker und spätere Kunstsammler Heinz Berggruen über die Verwüstung des elterlichen Schreibwarengeschäfts in der Konstanzer Straße in Berlin-Wilmersdorf und die Verschleppung und Ermordung seiner Angehörigen: „Ich bin, wie Sie verstehen werden, in großer Sorge um meine Eltern, dazu kommt das deprimierende Gefühl, selber in geradezu beneidenswerter Lage zu sein und andererseits bei dem Wahnsinn da drüben kaum helfen zu können.“ Denn Berggruen befand sich, als er dies schrieb, bereits im Exil in San Francisco, wo er aus der Ferne das Schicksal seiner Verwandten beobachtete: „Meine Mutter schrieb mir in einem verwirrten Luftpostbrief vom 11. November, dass unser Geschäft in der K.-Straße völlig zertrümmert sei und dass ihr Bruder und eine Reihe weiterer Angehöriger ins Konzentrationslager gebracht worden seien. (Das Wort Konzentrationslager ist mit Krankenhaus umschrieben.) Ein anderer Vetter, der schon vor zwei Monaten nach Sachsenhausen gebracht wurde, hat dort vor ein paar Wochen eine ,Herzattacke' erlitten, an der er dann starb.“
Berggruen hatte noch 1935 - wenn auch bloß mit seinen Initialen gekennzeichnet - für die „Frankfurter Zeitung“ geschrieben. 1936 gelang es ihm, erfolgreich nach Kopenhagen und dann 1937 in die Vereinigten Staaten zu fliehen. Sein Bericht wurde bereits 1938 an das Jewish Central Information Office in Amsterdam weitergeleitet, wo er zusammen mit Hunderten weiteren Berichten über die Ereignisse des Novemberpogroms 1938 von den Mitarbeitern Alfred Wieners gesammelt wurde. Die Berichte stützten sich auf das Netzwerk des von Wiener geleiteten Jewish Central Information Office und wurden zum Schutz der oftmals außerordentlich gefährdeten Informanten verschlüsselt. So trägt der hier zitierte Brief von Berggruen auch nur das Kürzel B 171. Zu einem Teil der Berichte fertigte Alfred Wiener im Dezember 1938 einen separaten maschinengeschriebenen Schlüssel an, der sich heute in der Wiener Library in London findet und die Aufklärung einiger Kürzel erlaubt. Tatsachen für Nachdenkliche Der Orientalist und Träger des Eisernen Kreuzes 2. Klasse, Alfred Wiener, gehörte zu den hellsichtigen Menschen, die schon während der Weimarer Republik die Gefahr eines deutschen Pogroms vorausgesehen hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg engagierte er sich im Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und warnte deutlich schon in seiner ersten Aufklärungsschrift:
„Vor Pogromen? Tatsachen für Nachdenkliche“.
Trotzdem ist das genaue Ziel für die Zusammenstellung der umfangreichen Dokumentation von 1938 nicht bekannt. In den Publikationen der Wiener Library lassen sich dazu auch in der Nachkriegszeit keine Anhaltspunkte finden. Nachdem Alfred Wiener sein Jewish Central Information Office rechtzeitig nach London in Sicherheit gebracht hatte, vernichteten Mitarbeiter des Jewish Central Information Office noch am Tag des deutschen Einmarschs in die Niederlande am 10. Mai 1940 sämtliche noch vorhandenen Briefe und Dokumente, die uns etwas über die Geschichte der Entstehung der Sammlung hätten sagen können. Der Biograph Wieners und heutige Direktor der Wiener Library, Ben Barkow, hat allerdings auf einen zeitgenössischen Gebrauch der Sammlung hingewiesen. Sie war dem sozialdemokratischen Schriftsteller Konrad Heiden zur Verfügung gestellt worden als Grundlage seiner Darstellung der Novemberpogrome in dem 1939 erschienenen Band „The New Inquisition“. Eine niederländische Übersetzung des Buches war zwar vom JCIO herausgegeben worden, musste aber nach einer Intervention der deutschen Diplomatie in den Niederlanden zurückgezogen werden. Ein deutschsprachiges Typoskript liegt bis heute unter dem Titel „Nächtlicher Eid“ unveröffentlicht in der Zentralbibliothek Zürich. Zum Thema Besonderer historischer Wert
Die 356 Augenzeugenberichte von sehr unterschiedlicher Länge finden sich gebunden in zwei großen Einzelbänden im Archiv der Wiener Library in London, der Nachfolgeorganisation des Jewish Central Information Office. Als ich vor sieben Jahren dort im selben Haus meine Tätigkeit als Direktor des Leo Baeck Instituts aufnahm, führte mich der Direktor der Wiener Library bald zu diesen Bänden. Wir erkannten darin beide das Material für ein gemeinsames Projekt, denn unter den vielen archivalischen Schätzen der Library schien uns diese Quelle von besonderem historischem Wert zu sein.
Das Interessante an dem Fund liegt zunächst darin, dass die Hunderte von persönlichen Berichten unmittelbar nach den gewalttätigen Ereignissen in Nazi-Deutschland protokolliert worden waren. Es handelt sich um Augenzeugenberichte des Novemberpogroms, die nicht durch die späteren Ereignisse geprägt wurden. So beschlossen wir - später mit der Unterstützung von Michael Lenarz, dem Archivar des Jüdischen Museums Frankfurt am Main -, die auf unterschiedlichen Amsterdamer Papierbögen abgetippten Quellen in einer zurückhaltend annotierten Edition herauszubringen. Am heutigen Samstagabend werden wir dieses Buch mit einer Lesung und einer Diskussion im Jüdischen Museum Frankfurt vorstellen.
1400 angezündete Synagogen
Die Zeugnisse sind zum überwiegenden Teil in unmittelbarer Nähe zu den Ereignissen des 9. und 10. November 1938 niedergeschrieben worden. Diese unmittelbare zeitliche und räumliche Nähe zu den gewalttätigen Exzessen spiegelt sich in der Intensität der Berichte. In wenigen Stunden waren etwa 1400 Synagogen angezündet und zerstört worden. Auf den Straßen Deutschlands wurden Juden in aller Öffentlichkeit gedemütigt und verprügelt, unzählige Wohnungen und Geschäfte verwüstet und ausgeraubt. 91 Menschen sind in weniger als 24 Stunden ermordet worden. Mehr als 30.000 jüdische Männer wurden innerhalb weniger Stunden und Tage auf Polizeiwachen, in Sturmlokale und Konzentrationslager verschleppt und brutal misshandelt. Von den damals noch 120.000 jüdischen Männern in Deutschland wurde also jeder Vierte inhaftiert und in der einen oder anderen Weise Opfer von Gewalttätigkeiten. Wenn die sadistische Gewalt in den Konzentrationslagern ein Ziel besaß, dann war es die „freiwillige“ sofortige Auswanderung, verbunden mit der Einwilligung zur „Arisierung“ noch bestehender Geschäfte jüdischer Inhaber. Das geschah - wie viele Augenzeugenberichte schildern - vielfach unter den Augen der deutschen Bevölkerung wie der nationalen und internationalen Presse, die weltweit über die ungeheuren Gewalttätigkeiten berichtete. Verschiebung der Kompetenzen Die Verstärkung des Vertreibungsdrucks war begleitet von einer in der Folge der Ausschreitungen erfolgtenVerschiebung der Kompetenzen in Bezug auf die „Judenfrage“ innerhalb des Reiches: Hermann Göring rügte seinen für die Pogrome wesentlich zuständigen Rivalen Joseph Goebbels nicht nur für die Sachschäden, er übertrug zusätzlich die Zuständigkeit für die „Judenfrage“ auf Reinhard Heydrich und damit auf die SS.
Der Novemberpogrom war jedenfalls, wie der Historiker Dan Diner einmal formulierte, eine „Katastrophe vor der Katastrophe“. Die Gewaltexzesse des Jahres 1938 im gesamten Deutschen Reich bilden für sich genommen ein katastrophisches Ereignis innerhalb der deutschen und der jüdischen Geschichte. Die Augenzeugenberichte der Wiener Library respektive des Jewish Central Information Office sperren sich gegen das Bild einer linearen Kontinuitätslinie, denn die Autoren der Berichte konnten nicht wissen, wie die nazistische Verfolgungspolitik 1941 in eine systematische Vernichtung mündete. So ermöglichen diese Berichte, der Katastrophe von 1938 das Gewicht und die Bedeutung zu geben, das sie durch die Kontextualisierung als bloßer Vorläufer der eigentlichen Katastrophe leicht zu verlieren droht. Fundamentale Widersprüche Nach der umfassenden Darstellung der Novemberpogrome von Dieter Obst sollen für die „Auslösung, Ausbreitung und Verschärfung der ,Reichskristallnacht' nicht primär antisemitische Überlegungen maßgebend“ gewesen sein.
Der Autor erkennt keinerlei „vorherige Überlegungen“ oder „Absprachen“ als ursächlich für dieses Pogrom und betont, dass selbst in den Fällen, in denen „manchmal Zuschauer und Zuschauerinnen“ sich „zu Plünderungen hinreißen“ ließen, ein solches Verhalten „mehr einer Massenpsychose“ entsprungen sei, als „Zustimmung zum Pogrom“ bedeutete. Dagegen verweist die jüngst erschienene englischsprachige Publikation von Martin Gilbert auf eine Kontinuität antijudaistischen und antisemitischen Denkens von Martin Luther bis zu den hier dokumentierten Gewalttätigkeiten des Novemberpogroms. Diese sich fundamental widersprechenden historischen Deutungen führen wiederum zu neuen Fragen:
Wenn Antisemitismus weder in der deutschen Bevölkerung generell noch bei den unmittelbar am Pogrom beteiligten NS-Aktivisten eine zentrale Rolle gespielt haben soll, wie ein Teil der Forschung betont, lässt sich nicht erklären, warum ausgerechnet Juden und Synagogen zum Ziel der Aggressionen geworden sind. Umgekehrt kann der Hinweis auf die lange antisemitische Tradition nicht der Tatsache Rechnung tragen, dass es im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert im deutschsprachigen Judentum Europas zu einer außergewöhnlichen kulturellen und ökonomischen Blütezeit kam. Beide Erklärungen hinterlassen ein Rätsel.Antisemitismus kann man, wie es einmal Peter Pulzer formuliert hat, als ein „moving target“ begreifen.
Weder ist er unveränderlich, noch wird er ständig neu erfunden: Seine historisch äußerst lange Dauer macht ihn als Feindschaft gegen Juden „als Juden“ einerseits zu einem „ewigen“, historisch konstanten, andererseits, da von den historischen Konstellationen abhängig, zu einem überaus vielfältigen Phänomen. Antisemiten beziehen sich gerne auf diese longue durée; sie scheint ihnen geradezu als Nobilitierung ihrer Obsession zu dienen.
Christlich geprägter Antijudaismus
Weder dem Nationalsozialismus noch seiner neonazistischen Verlängerung kann man eine besonders tiefgreifende christliche Motivation unterstellen. Dennoch scheinen der Angriff auf und die Zerstörung von etwa 1400 Synagogen in einem Land, das noch genug Juden als mögliche Angriffsziele bot, nicht reinem Zufall geschuldet. Nicht nur die Beamten im Reichsinnenministerium, die sich spätestens seit den sogenannten Nürnberger Rassegesetzen auf die Suche nach einer juristischen Definition „des Juden“ begaben - und sich dabei letztlich immer nur auf rein religiöse Kriterien, Gemeindemitgliedschaften und vorhandene oder mangelnde Taufscheine stützten -, sondern auch die weniger bürokratischen „Radauantisemiten“ waren nicht dagegen gefeit, gerade immer wieder herausragende Symbole der jüdischen Religion oder ihre Vertreter mit besonderer Brutalität anzugreifen. Deshalb würde ich die Täter auch in die Tradition eines christlich geprägten Antijudaismus einordnen. Dass viele von ihnen das Christentum sogar bekämpften, hinderte sie offensichtlich nicht daran, den christlichen Antijudaismus auf ihre Weise fortzuführen. Der Antisemitismus ist selbst in seiner nazistischen Form keine rein profane Ideologie des neunzehnten Jahrhunderts. Die in den vorliegenden Berichten immer wieder geschilderten besonderen Grausamkeiten gegenüber Rabbinern scheinen das zu belegen. So etwa in einem insgesamt präzisen und ausführlichen Bericht: „Unter den Verhafteten befinden sich die weitaus meisten Rabbiner, die, soweit sie ihren Beruf angegeben haben, häufig besonders schlecht behandelt worden sind. Der Rabbiner Klein, Düsseldorf, ist mit seiner Frau die Treppe hinuntergeworfen worden.“ Ein anderer Bericht wiederum hält fest: „Während der Nacht wurden wir aus den Wohnungen in die Synagoge getrieben. Dort zwang man unseren Rabbiner, aus dem Buche Hitlers ,Mein Kampf' von der Kanzel herunter einige Kapitel vorzulesen.“ Drei Mann in guter Garderobe Manche Berichte sind kurze Faktennotizen: „Synagoge und Leichenhalle in Erfurt sind am 9./10. November 1938 verbrannt worden.“
Andere sind ausführlich und manchmal sogar ironisch. So berichtet eine als „Arierin“ bezeichnete „Dame aus Berlin“: „Drei Mann in guter Garderobe befehligten die Übrigen, welche die ,kochende Volksseele' repräsentierten. Diese Gruppe von zehn bis elf Mann drang, mit langen Eisenstangen und Beilen bewaffnet, in die Engros-Geschäfte ein, um dort alles, aber auch alles, was es nur zu zerstören gab, in Trümmer zu schlagen. Damit war jedoch dieser ,kochenden Volksseele' nicht Genüge getan. Kleider, Pelze, Schreibmaschinen, Lampen, Garderobenständer, ja sogar die Blumentöpfe aus den großen Verkaufsräumen wurden auf die Straße geworfen.“ Viele berichten aus verschiedenen Quellen über offenbar an verschiedensten Orten verübte Grausamkeiten.
Andere wiederum beschreiben das Besondere im Rahmen der ausufernden Grausamkeiten. So etwa ein Bericht aus Böhmen, der sich fast wie eine mittelalterliche Legende liest: „In Gablonz (Böhmen) wurde am 9./10. November 1938 die Synagoge in Brand gesteckt. Man hing dabei einem Juden ein Plakat um - er hieß Robitschek - und stieß ihn in die Richtung der brennenden Synagogentüren. Plötzlich fing in der brennenden Synagoge die Orgel an zu spielen. Die Menge schrak zusammen, und es wurde ihr unheimlich. Dem Juden geschah daraufhin nichts mehr.“ Hoher Anteil von Jugendlichen Dass der Nationalsozialismus nicht nur auf der Führungsebene eine relativ junge Bewegung war, zeigt sich an dem hohen Anteil von Jugendlichen, die laut den Berichten an den Ausschreitungen beteiligt waren. Neben Schilderungen widerlichster Formen der Zustimmung zu den Pogromen finden sich solche, die scharf zwischen nationalsozialistischen Tätern und der allgemeinen Bevölkerung unterscheiden: „die Bevölkerung lehne im Großen und Ganzen das Regime und die jüngsten Pogrome ab“.
Die Dokumente können als Beleg gelten für die Art, wie mittels öffentlich zur Schau gestellter Gewalt gegen Juden eine nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ als neue rassistische Gemeinschaft für breite Teile der Gesellschaft erfahrbar wird. Sie zeigen aber gleichzeitig, dass die Politik der Schaffung einer „Volksgemeinschaft“ nicht nur von den „Gemeinschaftsfremden“, sondern auch von den „Volksgenossen“ nicht einhellig gutgeheißen wurde. Wie diese Distanzierung sich ausdrückte, ist oftmals bis in die sprachliche Diktion hinein bemerkenswert. Ein in den Dokumenten als „Rein-Arier“ bezeichneter Sprachlehrer aus Frankfurt am Main wird etwa so zitiert: „Befragt, wie die Aktion auf die nichtjüdische Bevölkerung wirkt, gibt er an, dass der größte Teil völlig uninteressiert zuschaue. Ein kleiner Teil ,freue' sich, dass endlich ,aufgeräumt' wird, ein noch kleinerer Teil ,schäme' sich. Zu offenem Protest scheine es nicht gekommen zu sein.“
Leidenschaft und Weltanschauung
Das vielleicht zu erwartende moralische Gefühl - Empörung - befindet sich nicht in seiner Liste. Selbst in der Kritik am Regime hat sich schon die volksgemeinschaftliche „Moral“ durchgesetzt und breite Bevölkerungsschichten erreicht: „Überhaupt beteiligten sich auch sogenannte gebildete Leute an dem Vandalismus. So erkannte eine Dame in einem der Zerstörer den Gartenarchitekten, der ihr einmal für viel Geld ihren Garten angelegt hatte.“
Viele Berichte weisen auf den ökonomischen Irrsinn der Ausschreitungen hin. In praktisch allen Fällen standen die demolierten Geschäfte kurz vor der „Arisierung“ - die Zerstörungswut traf also Eigentum, das oftmals schon nicht mehr im Besitz von Juden war. Auch hier zeigt sich, dass Antisemitismus nicht entsprechend Hitlers Losung als „Antisemitismus der Vernunft“ verstanden werden kann.
Obwohl Sigmund Freud oder Jean-Paul Sartre auf die Leidenschaftlichkeit des Antisemitismus hingewiesen haben, bleibt gerade dieser Aspekt in der gegenwärtigen historischen und soziologischen Forschung meist unberücksichtigt. Es reicht aber nicht - wie es häufig geschieht -, Struktur und Semantik der antisemitischen Texte zu beschreiben.
„Der Antisemitismus ist“, wie Sartre schreibt, „gleichzeitig eine Leidenschaft und eine Weltanschauung.“
Die Augenzeugenberichte mögen dazu dienen, diese These in ihrer Ernsthaftigkeit neu zu bedenken.
www.faz.net/s/Rub4521147CD87A4D9390DA8578416FA2EC/...on~Scontent.html
Baden-Baden Geschichte
Der Gymnasial-Professor Arthur Flehinger schildert in einem Bericht, wie er und andere Juden am 10. November das Pogrom in Baden-Baden erlebten.
"Wäre es nach mir gegangen, wärt ihr alle im Feuer verreckt"
Dem weltberühmten Kurort Baden-Baden blieben bis zum 10. November 1938 die schlimmsten Exzesse der Nazis erspart. Nicht, um den jüdischen Bürgern der Stadt einen privilegierten Status zu geben, sondern aus rein taktischen Gründen.
Baden-Baden mit seinen starken internationalen Beziehungen sollte das Ausstellungsstück des Reiches sein. Jede Störung von Recht und Ordnung hätte Rückgang der ausländischen Besucherzahlen und deshalb auch Rückgang der Devisen bedeutet. Alle nationalistischen Gesetze (...) wurden hier natürlich genauso streng beachtet wie überall, aber die ausländischen Besucher bemerkten dies nicht. Während ausländische Zeitungen in anderen deutschen Städten praktisch nicht zu erhalten waren, konnte man in Baden-Baden die "Times" eigentlich bis zuletzt lesen. (...)
Eintritt verboten für Hunde und Juden
Ab Sommer 1937 blies dann aber auch in Baden-Baden ein anderer Wind. Das Nazi-Gift befiel die Stadt, die bis dahin relativ ruhig gewesen war. Die Wiesen hinter dem Kurhaus und das Kurhaus selbst wurden für Juden gesperrt. Der Besitzer des ehemals wohlbekannten Hotels "Holländischer Hof" - Helmut Rössler - dekorierte den Eingang zu seinem Restaurant mit dem Hinweis: Eintritt verboten für Hunde und Juden.
In den jüdischen Geschäften, die bisher, noch florierten, benahmen sich Parteimitglieder zunehmend aggressiv und betrachteten es als ihre wichtigste Aufgabe, der Partei die zu nennen, die noch immer den Mut und die Anständigkeit zeigten, in jüdischen Geschäften einzukaufen. Der 10. November zerstörte jede Illusion über das Leben der jüdischen Bürger von Baden-Baden. An diesem Morgen um 7 Uhr kam ein Polizist zu unserem Haus, Prinz Weimar-Straße 10, und bat mich, ihm zum Polizeipräsidium zu folgen. Da ich viele Jahre am Gymnasium in Baden-Baden unterrichtete, kannte mich jeder, und ich bemerkte die beträchtliche Verlegenheit des Polizisten. Es schien nutzlos, eine Unterhaltung mit ihm zu beginnen, deshalb folgte ich ihm schweigend, nachdem ich mich von meiner Frau verabschiedet hatte. Die Stadt war zu dieser frühen Stunde noch ruhig. Die einzigen Menschen, die ich sah waren andere Juden mit ihre Polizeibegleitung. Je näher wir zum Präsidium kamen, desto mehr Juden in Begleitung konnte man auf den Straßen sehen. Triumph der Starken über die Schwachen Obwohl im November die Saison norrnaIerweise vorüber ist, waren noch einige jüdisch Gäste in den Hotels, die ihnen zugänglich waren. Andere hatten sich von 1933 an in Baden-Baden niedergelassen, da dort - verglichen mit ihren frühere Domizilen - das Eldorado zu sein schien. Vor der Polizeistation beanspruchte es die berüchtigte Wache (...), dass jeder Jude, der an ihr vorbei musste, seinen Hut zog. Es wäre unter den herrschenden Umständen unklug gewesen, dies zu verweigern. Etwa fünfzig Opfer waren bereits zu der Polizeistation gebracht worden und die Anzahl der Neuankömmlinge war konstant. Die Polizisten trugen alle ihre besten Uniformen, war es doch schließlich der Tag des Triumphes der Starken über die Schwachen - etwa wie eine Dramatisierung der Lafontaine-Fabel "Der Wolf und das Lamm". Während der ganzen Zeit wurden die ankommenden Juden in gehöriger Form registriert. Gegen 10 Uhr wurden wir in den Hof gebracht und hatten uns in einer Reihe aufzustellen. Die aufgeregte Dienstfertigkeit der NS-Funktionäre ließ uns ahnen, dass ein besonderes Unternehmen drohte. Gegen Mittag wurde das Haupttor der Polizeistation geöffnet, und eine rechts und links bewahrte Kolonne von Juden begann, sich in die Straße zu bewegen. Der Marsch wurde in die Länge gezogen, um die Leute zu amüsieren. Zur Ehrenrettung der Bürger von Baden-Baden muss aber gesagt werden, dass es die Mehrheit unterlassen hat, zuzuschauen. Was man von den Zuschauern sehen konnte, war meist Pöbel. Zwischen dem Pöbel waren drei Lehrer. Einer von ihnen, Dr. Mampell, stand lediglich da und beobachtete die vorbeiziehenden Gefangenen. Der Rektor der Grundschule und sein Freund, Herr Schmitt, verteilten Süßigkeiten an einige Schuljungen, um sicherzustellen, dass diese laut und einheitlich "Jude verrecke" rufen. Weiter rechts oben > Ich habe es stark in Frage gestellt, ob diese Übung zur Belustigung der Zuschauer beitrug. Ich habe Leute weinen sehen, während sie hinter ihren Vorhängen zuschauten. (...) Die Kolonne näherte sich nun der Synagoge, deren Zufahrt und Eingangsstufen von Pöbel in Uniform und in Zivil gesäumt war. Dies war der schlimmste Teil des Weges. Während wir die Stufen hinauf stiegen, waren wir dauernden, niederträchtigen Flüchen und Drohungen ausgesetzt. Ich habe während des ganzen Weges geradeaus in die Menge geschaut. Als ich mich der letzten Stufe näherte, schrie jemand: "Schau' mich nicht so unverschämt an, Professor." Es war eher ein Eingeständnis von Schwäche und Furcht als eine Beschimpfung. Meinem Freund Hauser, einem bekannten Anwalt in Baden-Baden (und dekoriert mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse im Ersten Weltkrieg), erging es schlimmer als mir. Er wurde sehr geschlagen, als er die Treppe hinaufstieg, er fiel auf ein Tallith, das die Nazis auf den Stufen ausgebreitet hatten und uns zwangen, darauf zu treten. In der Synagoge schien sich alles verändert zu haben. Das schöne Gebäude war von gottlosen Händen entweiht worden.
Das Innere war Schauplatz, fieberhafter Aktivitäten der schwarz uniformierten SS-Männer. Oben auf der Frauenempore sah ich SS-Männer das Feuer vorbereiten, das bald unsere Synagoge zerstören sollte. Diese waren nicht von Baden-Baden. Für jenen 10. November wurde SS von den Nachbargemeinden in die Stadt beordert, so dass diese ihre Arbeit ohne Gewissensbisse verrichten konnten. Flehinger musste eine Passage aus "Mein Kampf" vorlesen Plötzlich hörte man eine arrogante Stimme: "Ihr singt jetzt alle das Horst-Wessel-Lied", und es wurde "gesungen", wie man es erwarten konnte. Wir mussten es ein zweites Mal "singen" - genau so schlecht. Dann wurde ich zum Almemar gerufen und aufgefordert, eine bestimmte Passage aus "Mein Kampf" vorzulesen. Eine Weigerung hätte Lebensgefahr für alle versammelten Juden bedeutet. Deshalb sagte ich: "Ich wurde aufgefordert, das Folgende zu lesen" und las die Passage leise vor, in der Tat so leise, dass der SS-Mann, der unter mir postiert war, mir wiederholt in meinen Nacken schlug.Diejenigen, die nach mir andere Abschnitte vorzulesen hatten, wurden in der gleichen Weise behandelt. Nach dieser "Lesung" war eine Pause.
Die Juden, die austreten mussten, wurden gezwungen, dies gegen die Synagogenwand zu tun. Sie wurden körperlich misshandelt dabei. Von der Synagoge wurden wir zu dem jüdischen Hotel gebracht, dem Central. Der Besitzer hatte schnellstens ein Essen für 70 Leute zu bereiten. Es war eine meisterhafte Improvisation, und es war verwunderlich, dass die Leute - obwohl unter Bewachung - überhaupt essen konnten. (...) Während wir in diesem Hotel bewacht wurden, versuchte jeder zu raten, was nun mit uns gemacht werden würde. (...) Während wir saßen und überlegten, kam der Kantor der Jüdischen Gemeinde, Grünfeld, herein - blass und schockiert - und sagte:.
"Unser schönes Gotteshaus steht in Flammen." Jetzt wurde uns klar, welche Vorbereitungen am Vormittag auf der Frauenempore getroffen wurden. Als Kantor Grünfeld dies gesagt hatte, fügte einer der SS-Wachen hinzu: "Wenn es nach mir gegangen wäre, wärt ihr alle im Feuer verreckt!"
Der Höhepunkt dieses tragischen Tages war erreicht. Unsere Hoffnung, wieder zu unseren Familien zurück zu können, war tiefem Pessimismus gewichen, und als schließlich etwa 60 Leute nach Hause geschickt wurden, wussten wir, dass Schlimmeres kommen würde. Die Deportation nach Dachau war sorgfältig geplant, obwohl wir dies nicht die ganze Zeit wussten. Nun hatten wir zum Bus zu laufen; diejenigen, die nicht schnell genug waren, wurden geschlagen. Am Bahnhof warteten wir auf einen Sonderzug von Freiburg, in dem andere Juden aus dem Schwarzwaldgebiet waren. In jedem Abteil saß ein uniformierter Polizist, der während der ganzen Fahrt nicht sprach. Als der Zug Karlsruhe in Richtung Stuttgart verließ, war das einzige Wort auf unseren Lippen "Dachau".
Am 10. November 1938 wurde die Baden-Badener Synagoge von Nazis in Brand gesteckt.
Das Grauen des 10. November 1938
Am Morgen dieses "denkwürdigen" Tages beginnt für die männlichen jüdischen Mitbürger ein "Spießrutenlauf" ohnegleichen. Sie werden aus ihren Häusern geholt und wie Verbrecher von SS-Leuten durch die Straßen von Baden-Baden getrieben. Nach einstündigem Marsch jagt man sie in die Synagoge in der Stefanienstraße. In ihrem eigenen Gotteshaus müssen die Juden nun aus Hitlers "Mein Kampf" lesen. Danach werden sie in ein gegenüberliegendes Hotel gebracht. Der jüdische Besitzer muss nun die rund 90 Männer unangekündigt verpflegen. Unterdessen wird die Synagoge in Brand gesteckt. In diesem Hotel nimmt man die Juden dann in "Schutzhaft". Kranke und über 60-jährige wurden freigelassen, die übrigen werden in Konzentrationslager deportiert.
Die Nacht als die Synagogen brannten
Texte und Materialien zum 9. November 1938
als Bausteine ausgearbeitet
Hrsg: LpB, 1998
Inhalt
Inhaltsverzeichnis
Allgemeine Literatur einschl. Überblicksliteratur zu Baden-Württemberg
(Auswahl)
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Benz, Wolfgang: Der Novemberpogrom 1938, in: Benz (Hg.), 1988, S.499-544.
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Blasius, Dirk/Diner, Dan (Hg.): Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland, Frankfurt/M. 1991.
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Brumlik, Micha/Kunik, P. (Hg.): Reichsprogromnacht. Vergangenheitsbewältigung aus jüdischer Sicht, Frankfurt 1988.
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Yahil, Leni: Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden, München 1998.
Zacharias, Sylvia: Synagogengemeinden 1933. Ein Wegweiser zu ihren Spuren in der Bundesrepublik Deutschland, Tl. 1, Berlin 1988.
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