Herzlichen Glückwunsch zum 100. LENI !!
Seite 1 von 1 Neuester Beitrag: 09.09.03 13:43 | ||||
Eröffnet am: | 22.08.02 13:44 | von: Boersiator | Anzahl Beiträge: | 20 |
Neuester Beitrag: | 09.09.03 13:43 | von: Levke | Leser gesamt: | 3.173 |
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Leni Riefenstahl zum 100.
Starker Wille und Verblendung
Wem 100 Jahre beschieden sind, kann selbst seinen Fluch überleben. Leni Riefenstahl, die am 22. August ihr Lebensjahrhundert rundet, ist das fast gelungen. Die lange in Deutschland verfemte Filmemacherin darf noch erleben, wie nun auch in ihrer Heimat der Frau gehuldigt wird, die das Kamera-Auge Adolf Hitlers war. 30 Jahre zählte Riefenstahl, als sie dem Demagogen begegnete. Und 42 war sie, als der ehemals so bewunderte Massenmörder endete.
Es war also nur eine kurze Spanne im langen Leben Riefenstahls, die sie mit der Zentralfigur ihres Schicksals wie auch ihrer künstlerischen Karriere zusammenführte. Aber es war die Zeit, in der die Biografie der Frau so unverwechselbar geprägt wurde, das sie noch immer die Gemüter beschäftigt. Viel Anteil daran hat die Tatsache der besonderen Nähe der gebürtigen Berlinerin zu Hitler, dessen Nachwirkung ebenso anhält.
Talent versus Propaganda
Ein einziger Film machte Riefenstahl unsterblich: "Triumph des Willens" ist der Titel jenes legendären Propagandastreifens vom Nürnberger NSDAP-Parteitag 1934. Viele halten ihn für eines der faszinierendsten Werke der Filmgeschichte. Es ist die mit raffinierter Schnitttechnik erreichte pseudoreligiöse Überhöhung eines Führer- und Massenkults, der in die Katastrophe führen sollte. Doch die Regisseurin hat sich stets der Einsicht versperrt, ihre künstlerische Potenz einem verbrecherischen Regime zur Verfügung gestellt zu haben.
Noch jüngst gab sie in einem AP-Interview an, ihr Werk sei "stubenrein" geblieben, gebe es doch "kein einziges antisemitisches Wort in meinen Filmen." Stets hat sie nach dem Krieg anders lautende Vorwürfe, an denen es bis heute nicht mangelt, damit gekontert, nie Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Andererseits machte sie noch in ihren vor 15 Jahren veröffentlichten "Memoiren" keinen Hehl aus der fast ungebrochenen Bewunderung zu Hitler, dem sie 1932 ein Erweckungserlebnis ganz eigener Art verdankte. Als sie ihn damals bei einer Kundgebung im Berliner Sportpalast hörte, fühlte sie sich "wie gelähmt".
Verblendung und starker Willen
Die Wirkung des Demagogen war so ungeheuer, dass sie sogleich seine persönliche Bekanntschaft suchte. Noch 1976 schrieb sie an Albert Speer, der ein negatives Bild seines ehemaligen "Führers" gezeichnet hatte: "Ein Hitler, wie Du ihn beschreibst, könnte nicht eine ganze Welt aus den Angeln heben, wie es ihm beinahe gelungen wäre." Doch abseits notorischer Verblendung wird man Leni Riefenstahl Format, Talent und starken Willen nicht abstreiten können.
Zwar hat sie nach ihrem noch im Krieg gedrehten und erst 1954 aufgeführten Film "Tiefland" über Jahrzehnte nicht mehr auf dem Regiestuhl gesessen. Doch noch einmal machte sie in den siebziger Jahren als Fotografin Furore. Ihre Bildbände über den Nuba-Stamm im südlichen Sudan fanden reißenden Absatz. Und nun, punktgenau zum Geburtstag, wird der vielleicht allerletzte Film Riefenstahls präsentiert: "Impressionen unter Wasser". Zu sehen ist das Resultat von mehr als 2.000 Tauchgängen Riefenstahls, die noch als vitale Greisin die Wunderwelt der Korallenriffe entdeckte.
Verlangen nach Schönheit und Harmonie
Immer haben Vollkommenheit sowie makellose Körper in Riefenstahls ästhetischem Verständnis dominiert: "Mich fasziniert, was schön ist, stark, gesund, lebendig. Ich suche Harmonie."
Erst als Ausdruckstänzerin der Schule Mary Wigmans, dann als Schauspielerin in Bergfilmen wie "Weiße Hölle am Piz Palü" war die Künstlerin bekannt geworden. Zu Berühmtheit gelangte sie 1932 mit dem Film "Das blaue Licht", in dem sie nicht nur die Hauptrolle spielte, sondern auch Regie führte. Hitler gab sich nach dem Besuch des Streifens begeistert. Damit war der Weg für den Auftrag zu den Parteitags- und den beiden Olympia-Filmen bereitet.
"Fest der Schönheit" und "Fest der Völker", die das Ereignis von Berlin 1936 dokumentierten, gefielen nicht nur den Nazis. Auch das Internationale Olympische Komitee war höchst angetan und zeichnete die Regisseurin mit der Goldmedaille aus. Welche Faszination das Wirken Leni Riefenstahls gerade im Ausland ausübt, beweist das Interesse Hollywoods, ihr Leben zum Leinwandstoff zu machen. Eine bekennende Bewunderin, die zweifache Oscar-Preisträgerin Jodie Foster, wird nun 2003 im Potsdamer Studio Babelsberg eine Kinofassung dieses Lebens in Szene setzen, voraussichtlich mit sich selbst in der Hauptrolle.
Die Heldin des mit Spannung erwarteten Projekts sieht dem mit gemischten Gefühlen entgegen: Denn sie, die noch immer bedauert, nicht nach Hollywood gegangen zu sein, konnte keine Mitsprache beim Drehbuch durchsetzen. Nun erhofft sie sich von Foster zumindest "einen anständigen Film über mich". Allerdings könnte gerade der auch von den Verdrängungen einer Frau handeln, die in den dunkelsten Jahren Deutschlands ihren Ruhm damit begründete, stets das auszublenden oder zu ignorieren, was ihr Verlangen nach Schönheit und Harmonie mörderisch kontrastierte.
Respekt, Bewunderung und Bitterkeit
Auch der 100. Geburtstag wird nicht die Widersprüche in dieser Vita löschen. Neue Bücher haben enthüllt, wie stark die Verstrickung der nach eigener Darstellung betont "unpolitischen Künstlerin" mit dem Nazi-Regime und insbesondere Hitler war. Ihr Können trug zu dessen verhängnisvollem Mythos viel bei. Sie hat dafür mit Anfeindungen, Prozessen und einem Karriereknick gebüßt. Und sie wurde für etliche deutsche Nazi-Mitläufer zur wohlfeilen "Projektion des Selbsthasses". Riefenstahl hat das nicht immer zu Unrecht beklagt.
Grundlos ist sie jedoch nicht in diese Rolle geraten. Und grundlos ist es nicht, wenn der 100. Geburtstag neben Respekt und Bewunderung auch Bitterkeiten über nie befriedigend beantwortete Fragen provoziert. Leni Riefenstahl wird damit leben müssen - bis zu ihrem Tod. Angst will sie vor diesem nicht haben: "Der Tod muss etwas Wunderbares sein. Für mich ein Geschenk."
Ihr Werk, ihr Verhältnis zu Hitler, ihr Tauchprojekt: Leni Riefenstahl spricht mit Hilmar Hoffmann
Wenn im August ihr neuer Film Premiere hat, gehört Leni Riefenstahl die längste Regisseurskarriere der Filmgeschichte - und auch die kontroverseste. Im Gespräch mit dem Präsidenten des Goethe-Instituts zieht sie Bilanz.
Als Leni Riefenstahl Texte von Hilmar Hoffmann über sich und ihre Filme las, muss sie einen Feind erkannt haben. In seinem Buch über NS-Propaganda im Film "Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit" (1986) beschrieb sie der damalige Frankfurter Kulturdezernent als "Bannerträgerin des Führers im faschistischen Film". Die formale Seite ihres "Triumphs des Willens" sei "hinreichendes Indiz für ihre nationalsozialistische Ästhetik, denn die in exerziermäßig geometrischen Formen offerierte optische Choreografie spiegelt nichts Geringeres als die Einheit des nationalsozialistischen Staatswesens selber", hieß es 1989 in Hoffmanns Beitrag zum Fischer-Taschenbuch "111 Meisterwerke des Films". Doch inzwischen ist die Frontstellung respektvoll aufgelöst - und jetzt trafen sich der Präsident des Goethe-Instituts und die 99-jährige Filmemacherin zu einem entspannten Gespräch. DW
Hilmar Hoffmann: "Bewundert viel und viel gescholten" - zwischen diesen extremen Aspekten bilanziert sich Ihr ereignisreiches langes Künstlerleben. Ihre zugleich schulbildende und kontrovers folgenreiche Ästhetik hat die Kunstwelt bis heute in zwei Lager gespaltet. Auf dem Tanzboden der Mary Wigman haben Sie Ihre ersten Schritte in die Welt der Künste begonnen. Wie lange wären Sie der "vergänglichsten aller Künste" (Wigman) treu geblieben, hätte Sie nicht ein Unfall gezwungen, schon mit 21 Jahren das Metier zu wechseln?
Leni Riefenstahl: Meine Antwort ist einfach. Ich wäre mit Leib und Seele gern Tänzerin geblieben. Von allem, was ich in meinem Leben als Künstlerin angefangen habe, hat mich am meisten das Tanzen beglückt und fasziniert.
Hoffmann: Aus dem Tief Ihrer tänzerischen Träume gelang Ihnen gleich mit Ihrer ersten Rolle in Arnold Fancks Bergfilm "Der heilige Berg" (1926) der Gipfelsturm in eine kontinuierliche Filmkarriere. Bald drängte es Sie zu Höherem: Sie wollten die Inhalte und deren ästhetische Struktur selber gestalten. Dies ist Ihnen mit Ihrem Regiedebüt "Das blaue Licht" (1932), auch aus heutiger Sicht, glänzend gelungen. Darf hier eine nachträgliche Analogie zu Thomas Manns Hommage an die Höhenwelt der Alpenmassive vermutet werden, mit der er "das Erlebnis der Ewigkeit als einen metaphysischen Traum" beschwört, "elementar im Sinne außermenschlicher Großartigkeit"?
Riefenstahl: Ich muss sagen, nein, ich habe den Text auch bis heute nicht gelesen.
Hoffmann: Noch bevor Adolf Hitler Reichskanzler wurde, haben Sie sich den Wunsch erfüllt, den Mann persönlich kennen zu lernen. Bei einem Spaziergang an der Nordsee haben Sie sich beide in ein folgenreiches längeres Gespräch vertieft. Was hat Sie an diesem Mann fasziniert, noch bevor er die Macht ergriff?
Riefenstahl: Ich habe Hitler zum ersten Mal 1932 im Berliner Sportpalast erlebt. Dies war übrigens die erste politische Veranstaltung, die ich überhaupt besucht habe. Ich war fassungslos zu erleben, welch ungeheure hypnotische Macht Hitler auf seine Zuschauer ausübte, wie ein Hypnotiseur, der alle verzauberte und in seinen Bann schlug. Es war unheimlich, und der Funke sprang auch auf mich über. Es war diese seltsam erregende Ausstrahlung, die nicht nur von ihm selbst ausging, sondern auch von der Verbindung Redner-Publikum. Das hat mich stark aufgewühlt - sehr stark sogar, ohne dass ich mir Gedanken machte über den Wert. Ich fragte mich, was ist das eigentlich für ein Mensch, der solche Wirkung erzielt, wie ist der wirklich. Er hatte mich neugierig gemacht, mehr über ihn zu erfahren, und da kam mir die Idee, ihn persönlich kennen zu lernen. Mit großer Naivität habe ich einen Brief an das Braune Haus in München geschickt und um eine Unterredung gebeten. Ich wollte mir selber ein Bild machen, was ist Mache, was ist Theater, was ist Wirklichkeit. Ich habe aber nie damit gerechnet, dass ich überhaupt einer Antwort gewürdigt würde, die dann aber sehr schnell kam.
Hoffmann: Warum kam die Antwort schneller als erwartet?
Riefenstahl: Das verdanke ich einem Zufall. Als sein Adjutant Brückner die Post überreichte, war Hitler völlig von meinem Brief überrascht, weil er erst zwei Tage zuvor in diesem Nordseedorf seinem Adjutanten gegenüber erwähnt hatte, dass das Schönste, das er je gesehen habe, der Tanz der Leni Riefenstahl in dem Film "Der heilige Berg" gewesen sei.
Hoffmann: Würden Sie es als schicksalhaft bezeichnen, dass bei diesem Zwiegespräch am Nordseestrand Hitler Sie als eine selbstbewusste Frau bewunderte und Ihren "Tanz an das Meer" im "Heiligen Berg" als "das Schönste" pries, das er je gesehen?
Riefenstahl: Es war so. "Das Blaue Licht" muss ihm imponiert haben, auch weil den eine Frau gemacht hatte. Das hat er mir auch persönlich gesagt.
Hoffmann: Immerhin gipfelte sein Kompliment in dem Versprechen, dass, sobald er Reichskanzler sein werde, Sie seine Filme machen sollten?
Riefenstahl: Ja, das hat er mir zu meiner großen Überraschung bei diesem Gespräch gesagt, worauf ich ganz betroffen reagierte und sagte: "Nein, mein Führer, das werde ich nicht tun, ich kann nur das machen, was aus meinem Inneren wächst, wonach ich Sehnsucht habe. Auftragsfilme kann ich nicht machen" - das war meine Antwort. Weil ich etwas ablehnend reagierte, hat er gemeint, wenn ich einmal reifer und älter sei, verstände ich vielleicht seine Ideen besser.
Wie Leni Riefenstahl Hitler an der Nordsee kennenlernte, ihm das Versprechen abnahm, nur einen Partei-Film machen zu müssen
Hoffmann: Warum haben Sie sich von Arnold Fanck getrennt? Er hatte Ihnen doch ein einzigartiges Katapult ins Medium Film gezimmert.
Riefenstahl: Ich hatte irgendwie doch den Wunsch, mich gegen Dr. Fanck zu stellen, weil ich nicht zufrieden war mit seiner Regie. Es hatte mir vieles nicht gefallen, etwa die Ästhetik seiner Bilder, seiner "schönen Bilder", die er auch in Handlungen fügte, die aber traurig und negativ waren. Das habe ich als Stilbruch empfunden. Ich fand es nicht gut, dass er in eine traurige Sphäre eine positive Lichtgestalt stellt. Wenn ich schöne Bilder bringen möchte, dann muss die Handlung dem auch entsprechen. So bin ich auf die Idee verfallen, für "Das blaue Licht", dessen Handlung ja eine märchenhafte ist, nur schöne Bilder zu machen. Das wäre aber bei einem Film wie "Piz Palü" widersinnig, wo dramatische Lawinen donnern und Menschen sterben. Da fand ich es nicht angebracht, dass man heitere Sonnenaufgänge und glitzernde Gletscher zeigt, während die Handlung dramatisch traurig ist.
Hoffmann: Also schufen Sie einen Gegenentwurf . . .
Riefenstahl: Das war der eigentliche Grund für meine Idee, "Das blaue Licht" dagegenzusetzen. Bei schönen Bildern muss auch die Handlung entsprechend stimmig sein: ein Märchen, eine schöne Legende. Eine realistische Handlung verlangt auch entsprechend realistische Bilder. Wenn ich aber schöne Bilder zeige - Nebelbilder, einfallendes Licht und so weiter -, dann muss das dem Inhalt entsprechen. Insofern befand ich mich im Gegensatz zu Fanck.
Hoffmann: Sie haben Fanck von Ihrem Schönheitsbegriff also nicht überzeugen können?
Riefenstahl: Doch, aber erst, nachdem ich mich von ihm getrennt hatte. Als ich Fanck mein Manuskript zeigte, hat er zunächst abgewinkt: "Du bist doch verrückt, das kann man gar nicht machen." Ich fragte "Wieso nicht?" Er meinte, das kannst du dir nur leisten, wenn du Millionen zur Verfügung hast, um die Natur zu überhöhen und durch Kulissen zu verfälschen. Etwa so, wie Fritz Lang das gemacht habe zum Beispiel in den "Nibelungen", mit riesigen Bäumen und so weiter. Das Geld hast du doch gar nicht.
Hoffmann: Hat Fanck seine Meinung revidiert, nachdem er "Das blaue Licht" gesehen hatte?
Riefenstahl: Er hat zugegeben, sich geirrt zu haben. Ich hatte ja selber große Probleme, meine Ideen umzusetzen, die Bedingungen waren ja nicht gerade ideal. Er hatte in manchen Punkten sogar Recht, etwa als er mich fragte: "Wie willst du das denn machen, dass die Felsen märchenhaft wirken, wenn du auf ihnen herumkletterst, die sind doch ganz realistisch." Das hat mich irritiert, da war was dran. Da habe ich drei, vier Nächte gegrübelt, bis mir der Gedanke kam, die Berge einzunebeln und sie so gegen das Licht zu fotografieren, dass die gewünschte märchenhafte Stimmung entstand. Das heißt, mir ist meistens eine Lösung eingefallen.
Hoffmann: Sie haben dann Hitlers Parteitagsfilme gedreht, 1933 "Sieg des Glaubens" und 1934 "Triumph des Willens". Ihnen ist damit gelungen, den Dokumentarfilm durch eine neue Ästhetik interessant zu machen und mit einer emotionalen Qualität zu verbinden. Walter Benjamin qualifizierte dies als die Ästhetisierung der Politik. War es Absicht oder Zufall, dass Sie die negative Ästhetik des Nationalsozialismus mit Hilfe der positiven Ästhetik des Films populär gemacht haben?
Riefenstahl: Die Frage ist sehr schwierig, weil man sie nicht kurz und bündig beantworten kann. Es war alles ganz anders. Es ist vielmehr so: Ich hatte nach "Das blaue Licht" den Wunsch, nur noch Filme zu drehen, die mich reizten. Also Projekte wie die "Penthesilea" oder "Michael Kohlhaas", Filme, die mich erfüllten. An Filmen über Politik oder Wissenschaft war ich nicht nur nicht interessiert, sondern strikt dagegen. Sie werden verstehen, dass ich ziemlich verzweifelt war, als Hitler mich bat, für ihn Filme zu machen. Die ersten, die er mir anbot, waren Nazithemen wie "SA-Mann Brand" oder "Hitlerjunge Quex", Spielfilme, die dann von anderen gemacht wurden.
Hoffmann: Von Franz Seitz und Hans Steinhoff. Zusammen mit Franz Wenzlers "Hans Westmar" wurden diese drei parteihörigen Filme 1933 gedreht - übrigens bis Kriegsbeginn die einzigen, die den Nationalsozialismus expressiv verherrlicht haben. Danach wollte Goebbels keine braunen Uniformen und keine Hakenkreuzfahnen mehr auf der Leinwand sehen, im Kino sollte heile Welt die Zuschauer umlullen.
Riefenstahl: Das mag sein. Immerhin hatte ich es zunächst geschafft, diese Parteifilme absagen zu können. Hitler war fast böse darüber, aber ich hatte die Kraft, das Angebot auszuschlagen. Und dann ist etwas passiert, das man schicksalhaft nennen könnte. Hitler hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ich dann irgendetwas anderes für ihn machen sollte, einen Film etwa über die Parteiwerdung - was ich auch noch geschafft habe abzulehnen. Doch nachdem ich mich mehrfach verweigert hatte und dadurch langsam in die Ecke gedrängt wurde, musste ich damit rechnen, große Schwierigkeiten zu bekommen, meine Ideen noch realisieren zu können. Also habe ich mir überlegt, einen Kompromiss einzugehen und einen Film über den Parteitag zu drehen. "Den können Sie doch wenigstens machen, das sind nur sechs Tage, der Parteitag hat nur sechs Tage, und sechs Tage Ihres Lebens können Sie mir doch schenken", meinte Hitler. "Darf ich dann bitte auch einen Wunsch äußern?", antwortete ich. "Einmal weiß ich gar nicht, ob ich das überhaupt kann, ich habe noch keinen Parteitag gesehen und habe auch wenig Interesse, so etwas zu machen. Aber wenn ich das mache, dann habe ich eine dringende Bitte: Ich möchte Ihr Versprechen, nie wieder für Sie oder die Partei einen Film machen zu müssen, also nur diesen einen, und den ohne Verantwortung." Das hat Hitler mir in Gegenwart von Albert Speer in die Hand versprochen.
Hoffmann: Aber es gab doch am Ende drei Parteitagsfilme von Ihnen?
Riefenstahl: Das Fantastische und auch für mich Unbegreifliche war doch, dass es mir dann nach vielen Anläufen zunächst gelungen war, nur einen einzigen Parteitagsfilm drehen zu müssen. Das sollte 1933 der Film nach dem Parteitagsmotto "Sieg des Glaubens" sein. Hitler hatte Goebbels den Auftrag gegeben, das Propagandaministerium solle mir dabei helfen. Goebbels aber hasste mich schon damals aus vielen Gründen und hat Hitlers Weisung nicht befolgt. Und so hat es dann großen Krach gegeben zwischen Goebbels und Hitler. Als Hitler mich später kommen ließ, um zu fragen, wie weit ich denn sei mit den Vorbereitungen in Nürnberg, hatte ich gar keine Ahnung, weil mich keiner informiert hatte. Da hat er Dr. Goebbels gerufen und ihn in meiner Gegenwart zusammengeputzt. Ich bin fast im Boden versunken, es war grauenhaft. "Wie können Sie meinen Auftrag nicht ausführen, Frau Riefenstahl weiß nichts, ich möchte aber, dass sie den Film macht und Ihre Leute ihr dabei helfen." Goebbels hatte ja eine eigene Filmabteilung, und so wäre es auch vernünftig gewesen, dass die mir hilft. Weil Hitler mich gegen Goebbels durchsetzen wollte, hat das den Widerwillen von Goebbels gegen mich verstärkt.
Hoffmann: Dazu kam doch auch, dass Sie zu jenem ausgewählten Kreis um Hitler gehörten, der sein Vertrauen genoss. Insofern hat Goebbels Sie als Konkurrenz empfunden.
Riefenstahl: Ich besaß nicht Hitlers Vertrauen und war selten bei ihm. Ich hatte nur einmal ein Telefongespräch mit ihm in den ganzen Jahren. Trotzdem sagte er seinen Leuten: "Ich möchte, dass Frau Riefenstahl einen Film über den Parteitag macht."
Hoffmann: Wir sprechen also immer noch über Ihren ersten Film von 1933, der den Titel des Parteitags, "Sieg des Glaubens", trägt.
Riefenstahl: Ja, dieser erste Versuch war 1933. Die Partei hat das Projekt aber zu boykottieren versucht. In Nürnberg habe ich von der Partei weder Filmmaterial noch Geld bekommen, einfach gar nichts. Ich habe meinen Bruder mitgenommen, der etwas Geld hatte. Ich war verzweifelt, weil alle mich boykottiert haben. Damals habe ich Albert Speer kennen gelernt, der mich ermutigte: "Frau Riefenstahl, das müssen Sie schaffen, ich werde Ihnen helfen." Ich habe gefragt, ja, wie denn? Er werde versuchen, mir einen guten Kameramann zu besorgen. Da hat mir Speer den Walter Frentz geschickt, und der hat zwei weitere Leute kommen lassen. Speer: "Ihr werdet jetzt filmen, was Frau Riefenstahl euch sagt." Da habe ich versucht, mit den beiden Kameraleuten etwas zu drehen. Aber Parteileute haben Kameras umgeworfen und viel zerstört. Ich hatte gerade mal ein paar Tausend Filmmeter und sagte zu Speer: "Jetzt ist alles aus, am besten ich verlasse Deutschland. Ich werde hier von der Partei boykottiert, obwohl Hitler den Film von mir will. Was soll ich machen?" Sein Rat war: "Erzählen Sie Hitler alles, was Sie erlebt haben." "Aber dann habe ich noch mehr Feinde", worauf er insistierte: "Sie müssen ihm alles sagen." Genauso war es.
Hoffmann: Haben Sie Hitler dann alles erzählt, wie Speer Ihnen geraten hatte?
Riefenstahl: Nach Beendigung der Arbeiten wurde ich zu Hitler gerufen. Als er fragte, wie es war, da habe ich ihm alles erzählt. Das war natürlich eine grauenhafte Situation. Er schlug vor zu versuchen, das Material so gut es ging zu schneiden. Einen "richtigen Film müssen Sie dann nächstes Jahr machen". Das war für mich wie ein Todesstoß. Obwohl ohnehin schon alles grauenhaft genug war, sollte ich es 1934 besser machen. Später hat sich die Partei gemeldet, ein kleiner Angestellter, und hat für mich einen kleinen Raum gemietet, einen stillgelegten Fahrstuhl. Darin stand ein alter Schneidetisch, da sollte ich das Material für "Sieg des Glaubens" schneiden. Man hat mir eine Kleberin zur Verfügung gestellt. So habe ich dann aus dem Material den Kurzfilm geschnitten.
Hoffmann: "Sieg des Glaubens" dauert allerdings präzis 63 Minuten. Bei "Triumph des Willens" hatten Sie 1934 aber dann so gut wie keine Widerstände mehr zu gewärtigen?
Riefenstahl: Was diesen nächsten Film betrifft, beschwor ich Hitler, könne ich die Verantwortung nicht übernehmen. Da wurde er fast böse und meinte: "Sie können das." Als ich ihm dann "Sieg des Glaubens" gezeigt habe, wurde mir plötzlich klar, dass ich tatsächlich schneiden kann. Ich hatte schon beim "Blauen Licht" das Gefühl, dass ich eine Begabung fürs Schneiden habe. So ist dann aus dem "Triumph" ein ganz netter, aber kein besonderer Film geworden. Aber die haben eine festliche Premiere damit angezettelt, den Film hoch gelobt als einen ganz tollen Film, was ich selber überhaupt nicht fand. Ich fand ihn eher primitiv und schlicht.
Hoffmann: Sie wissen, dass Goebbels diesen Film später zerstören ließ, weil darin SA-Chef Ernst Röhm neben Hitler figurierte, den "der Führer" in der "Nacht der langen Messer" ermorden ließ? Er durfte im Film nicht weiterleben. So ist erst nach dem Krieg wieder eine Kopie aufgetaucht.
Riefenstahl: Es ist schon seltsam, dass man keine Kopie mehr finden konnte. Auch meine war verschwunden. Ich gäbe was drum, wenn ich wenigstens eine Kopie hätte. Meine Filmbunker sind ja alle ausgeraubt worden. In "Sieg des Glaubens" sind übrigens Sequenzen später hineingeschnitten worden mit Bildern aus "Triumph des Willens", das ist also nicht mein "Sieg des Glaubens". Den Beweis dafür liefern die Bilder, auf denen Hitler mit dem Auto durch die Straßen von Nürnberg fährt.
Hoffmann: Die sind doch aber erst im Jahr 1934 gemacht worden. Die konnten im "Sieg des Glaubens" gar nicht drin sein.
Riefenstahl: Obwohl ich im nächsten Jahr, 1934, den "Triumph des Willens" machen musste, ist er doch gut geworden. Das verdankt sich schierer Hexerei, denn eigentlich hatte ich keinerlei Interesse an dem Stoff.
Hoffmann: Der Film war dann aber so hervorragend, dass Ihnen der Vorwurf einer suggestiven Ästhetisierung des Faschismus gemacht wurde.
Riefenstahl: Dabei hatte ich nur einen Wunsch, so schnell wie möglich damit fertig zu werden. Um nichts mehr damit zu tun haben zu müssen, hoffte ich, dass mir der Film halbwegs gelingen möge. Ich hatte beim Schneiden nicht die geringste Ahnung, dass der Film einmal so berühmt und auch so gut sein würde.
Hoffmann: Das liegt auch daran, dass die langweiligen Aufmärsche und die dürftigen Reden durch Ihr kinematographisches Genie zu hedonistischen Feiern stilisiert worden sind. Wie vor Ihnen Gance, Eisenstein oder Griffith haben auch Sie die virtuelle Schönheit der Massen visualisiert, indem Sie diese ornamenthaft in Bewegung zu setzen wussten, Hitlers "Bewegung" quasi verdoppelnd. Die Magie der Fahnen, das Flair der sakralen Überhöhung, die Gemeinschaft simulierenden Lieder haben uns Pimpfe damals tief beeindruckt. Wir wollten so sein wie der blonde Trommler auf der Leinwand, und für den Führer wollten wir sogar durchs Feuer gehen.
Riefenstahl: Bei der Vorbereitung bin ich mit den Kameraleuten, insbesondere mit Sepp Allgeier, der mir der Wichtigste war, in Nürnberg herumgelaufen, habe mit ihm die Kamerapositionen festgelegt und wie man die Massen filmisch gestaltet. Damit die Reden nicht so langweilig wirken, hatte ich die Idee, eine Schiene um den Redner herumzulegen und alles allein vom Filmischen her zu gestalten. Ich habe kein einziges Mal ans Politische gedacht. Das sehen Sie schon daran, dass ich die Wehrmacht nicht mit reingenommen habe. So habe ich die Reihenfolge nicht nach der politischen Wichtigkeit gegliedert, sondern allein danach, wie das Ganze wirken sollte.
Hoffmann: Und wie wirkte diese Gliederung auf die Massen im Kino?
Riefenstahl: Viele haben darüber geschrieben, in Amerika Susan Sonntag. Angeblich hätte ich vieles, etwa die Anordnung der Zuschauer, selber inszeniert, was nicht stimmt. Ich habe nicht eine einzige Szene inszeniert, sondern schlicht mit der Kamera aufgenommen, was in der Arena zu sehen war. Auch wurde geschrieben, ich hätte wer weiß wie viele Kameraleute für den Film gehabt, dabei hatte ich nur 13, und unter diesen waren es gerade mal zwei, drei, die sehr gut waren, vor allem Allgeier. Der Rest waren Amateure. Entstanden ist die Qualität des Films am Schneidetisch und durch die musikalische Untermalung. Ich hatte großes Glück, den Herbert Windt zu finden, der die richtigen Märsche und die richtige Musik fand. Ohne Windt wäre der Film nicht so gut geworden.
Hoffmann: War es Windts Idee, den Film mit der "Rienzi"-Ouvertüre beginnen zu lassen?
Riefenstahl: Ja, natürlich.
Hoffmann: Offensichtlich schon nicht mehr von Ihrem Führerauftrag begeistert, haben Sie gleichwohl noch einen dritten Parteitagsfilm gestaltet, "Tage der Freiheit" (1935). Er erreicht nicht die hohe filmästhetische Qualität, die sich mit Ihrem Namen verbindet.
Riefenstahl: Es hatte einen großen Krach gegeben nach der Premiere von "Triumph des Willens". Die Armee hat sich beim "Führer" beschwert, dass die Wehrmacht nicht drin vorkam. Da hat Hitler mich zu einem Gespräch nach München eingeladen - es war an einem Weihnachtsfeiertag. Beim Tee mit Rudolf Hess hat er mir gesagt: "Liebe Frau Riefenstahl, können wir nicht etwas wieder gutmachen, denn die Wehrmacht ist sehr verbittert. Können Sie nicht einen Vorspann machen. Sie fahren einfach an den Herren mit der Kamera entlang und nennen den jeweiligen Rang eines jeden." Ich habe die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und gerufen: "Um Gottes willen, wie schrecklich." Ich fand es meinerseits dann auch schrecklich, als er konterte: "Vergessen Sie nicht, wen Sie vor sich haben."
Hoffmann: Ist diese Reaktion Hitlers folgenlos geblieben?
Riefenstahl: Als er sich verabschiedete, war er ziemlich sauer, und wie ich finde, zu Recht. Als er rausging, kam mir ein rettender Gedanke. Im nächsten Jahr mache ich einen kurzen Film nur von der Wehrmacht. Aber das wollte Hitler gar nicht mehr wissen, er war wirklich erzürnt. Ich habe im nächsten Jahr fünf Kameraleute, als wichtigsten wieder Willi Zielke, nach Nürnberg geschickt, als die Wehrmacht ihren großen Auftritt hatte, und dann gebeten, dass sie den Film machen. Eigentlich hat Zielke die Aufnahmen gemacht und den Film auch geschnitten. Er hat ihn mir dann gebracht, und ich habe ihn einen Tag lang noch ein wenig umgeschnitten, das war alles, was ich dazu beigesteuert habe. Ja, es war ein Film von Zielke, der in einem Tag entstanden ist. Als "Tag der Freiheit" ist er unter meinem Namen aufgeführt worden.
Hoffmann: Monokelträger General Walter von Reichenau wollte mit diesem ausschließlich der Wehrmacht gewidmeten Film das in den Gleichschritt die Gehorsamsleistung einordnende Prinzip sanktioniert finden?
Riefenstahl: Um eine Versöhnung zwischen der Wehrmacht und mir herzustellen, hat Hitler eine Einladung an die Creme der Wehrmacht zu einer Vorpremiere geschickt. Das war im Herbst 1935. Ich bin 20 Minuten zu spät gekommen, Goebbels glänzte darüber vor Schadenfreude, Hitler war schon nervös, ich hatte einen Autounfall oder irgendetwas dergleichen, weshalb ich zu spät kam. Dann wurde der Film zum ersten Mal vorgeführt. Er dauerte ungefähr 25 Minuten. Die Wehrmacht saß mit ihren Damen da, es herrschte Eiseskälte. Während der Film lief, herrschte ziemliche Unruhe, bis schließlich eine große Begeisterung den Raum auftaute, und alle geklatscht haben. Die erhoffte Versöhnung hat also stattgefunden.
Hoffmann: Der Begriff Montage musste nach Ihren Filmen neu definiert werden. Haben Sie von den russischen Meistern der Montage gelernt? Von Eisenstein, Wertow oder von Pudowkins Rezept, dass der gefilmte Mensch nicht viel mehr sei als bloß Rohmaterial für die spätere, durch die Montage geschaffene Komposition seiner Filmerscheinung?
Riefenstahl: Ich muss Sie da enttäuschen: kein Einfluss auf meine Filme. Ich habe die russischen Filme entweder erst später gesehen oder gar nicht. Natürlich habe ich Eisenstein bewundert, aber keinen Bezug auf meine Arbeit gefunden. Ich fand die Filme großartig, sie haben mir wunderbar gefallen. Vielleicht haben sie unbewusst Einfluss genommen, das könnte ja sein. Ich fand die Filme jedenfalls auch sehr schön.
Hoffmann: Der große britische Dokumentarfilmer John Grierson hat Sie als "die größte Dokumentarfilmschöpferin aller Zeiten" gepriesen.
Riefenstahl: Wissen Sie, was er, als ich in London war, gemacht hat und was mir schrecklich peinlich war: In kleinem Kreis seiner Mitarbeiter und Freunde hat er ein paar nette Worte über mich gesagt. Dann hat er meine Schuhe ausgezogen und mir die Füße geküsst. Ich war von dieser Geste tief berührt.
Hoffmann: Grierson war im letzten Krieg immerhin der von den Alliierten beauftragte Chef für die kinematographische Gegenpropaganda - mit Blick auf Ihre Filme umso erstaunlicher seine Bewunderung für Sie.
Riefenstahl: Er hatte mir erzählt, wie er während des Krieges versucht hat, aus "Triumph des Willens" eine Groteske zu machen, als List der Gegenpropaganda. Er hat alles versucht, er hat den Film sogar rückwärts laufen lassen, aber es sollte ihm nicht recht gelingen.
Hoffmann: Jean Cocteau schwärmte 1952: "Wie könnte ich nicht Ihr Bewunderer sein, da Sie das Genie der Kinematographie sind." Und die den Faschismus zutiefst verdammende Susan Sontag fand, dass die "Macht von Leni Riefenstahls Werk im Fortbestehen seiner ästhetischen Ideen" liege. Sogar Mick Jagger bewundert Sie. Sehen Sie sich als "das unschuldige Opfer einer Konspiration des Schweigens" hier in Deutschland, wie "Cahiers du Cinéma" mutmaßt?
Riefenstahl: Ja, eigentlich ist das so der Fall. Ich habe nie begriffen, warum man mich hier in Deutschland so angegriffen und gemieden hat, also genau das Gegenteil von dem getan hat, was dieselben Leute vor Ende des Krieges an Positivem über mich verbreitet haben. Es waren dieselben Leute, die vor dem Krieg begeistert auch über den "Triumph des Willens" geschrieben oder ihm Preise gegeben haben. Nach dem Krieg haben sie meine Filme verteufelt und als Hexerei bezeichnet. Man hat meine Filme durch eine extreme politische Brille betrachtet. Nach dem Krieg waren die Menschen durch die schrecklichen Dinge wie gelähmt, ganz verständlich.
Hoffmann: Und wie dachten Sie nach dem Krieg darüber?
Riefenstahl: Auch ich war wie gelähmt und habe die Dinge nun wie durch eine andere Brille gesehen, in einer anderen Farbe, und da erschien dann alles ganz furchtbar. Wir waren ja vorher nicht informiert über Hitlers Konzentrationslager, damals war man noch ganz unbefangen und hat nur Hitlers positives Werk gesehen. Als aber bekannt wurde, was für schreckliche Dinge in seinem Namen und seiner Partei geschehen sind, war man entsetzt, zutiefst und zu Recht entsetzt. Das war eine ungeheure Veränderung unseres Wissens.
Kommentar zu Leni Riefenstahl
Von Hanns-Georg Rodek
Es war im Dezember 1993, als Luggi Waldleitner in München seinen 80. Geburtstag feierte, der "König Ludwig" der deutschen Nachkriegsproduzenten, der alles vom "Mädchen Rosemarie" über "Lili Marleen" bis zu "Jenseits der Stille" finanziert hatte, und bei dessen großer Party sich deshalb auch die gesamte deutsche Filmelite einfand, ob Opas Kino, Neuer Deutscher Film oder die Jungspunde der Neunziger.
Es war dies eine demokratische Feier insofern, als kein Gast extra angekündigt wurde - mit einer Ausnahme: Leni Riefenstahl. Als sie eintrat, erhob sich der Saal zur stehenden Ovation. Ein paar Augen schauten nicht auf Leni, sondern wendeten sich zu einem anderen Gast: Arthur Cohn, Produzent von sechs Oscar-Filmen, und am Ende von Hitlers Krieg ein jüdischer Junge von 17 Jahren.
Und auch Cohn stellte sein Glas zur Seite, stand auf und applaudierte der Frau, die mehr als alle Anderen dazu beigetragen hatte, dem faschistischen Regime eine ästhetische Grundlage zu verschaffen. Cohns Geste war mit Sicherheit keine Absegnung ihres Werkes, sondern eher eine Respektsbekundung vor der Zähigkeit dieses Lebens.
Aber sie wäre noch vor 20 Jahren undenkbar gewesen und stand stellvertretend für einen neuen Umgang mit der eigenen Geschichte. Die politische Korrektheit verlangt nicht mehr automatisch moralische Entrüstung, sobald von einem Buch, einem Theaterstück, einem Film oder einem Stück Autobahn aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 die Rede ist.
Das war die eingeübte Reaktion, solange die Nachkriegsgesellschaft noch nach Wegen suchte, das Böse zu vergessen, zu relativieren, zu entschuldigen. Sie suchte Sündenböcke und fand ein Paradeexemplar in der Riefenstahl, die bei sich keine juristische Schuld zu entdecken vermochte und jegliche moralische Prüfung verweigerte. Auf diese Position zogen sich viele Deutschen zurück und fühlten sich unwohl dabei - und waren erleichtert, dass dies Unwohlsein auf ihren Schultern abgeladen werden konnte.
Diese unsichtbare Beziehung, die viele Deutschen mit ihr pflegten, ist in Auflösung begriffen - weil es immer weniger Menschen gibt, die das Dritte Reich als Erwachsene erlebt haben. Zwei Generationen später bleibt einfach die Faszination - dass da noch eine auf dem Medienklavier spielt, die mit Hitler schon spazieren ging, bevor er die Macht ergriff.
Verhasst als die, die den Führer in Szene setzte, verehrt als Filmemacherin, verrufen als eine, die ihre Schuld leugnet–Besuch bei einer alten Dame
München, im August – Sommer am Starnberger See. Das Wasser schimmert stahlblau, in der Ferne leuchtet das helle Band der Berge, eine Glückslandschaft. Besonders glücklich sind hier übrigens die Immobilienmakler: Das Ufer zählt zu den preisintensivsten Wohngegenden der Republik, mit all den optischen Nachteilen, die das zeitgenössische Bauwesen in solcherlei Lagen mit sich bringt. Doch Pöcking droben auf der Seehöhe strahlt noch Behagen aus. Es gibt schöne Bauernhäuser sowie ein Verkehrsschild, das aus gutem Grund vor Kühen auf der Dorfstraße warnt. Nicht weit entfernt, in einer Siedlung mit hohen Hecken, lebt Leni Riefenstahl.
An diesem Donnerstag wird die Frau, die Hitlers Starregisseurin war, 100 Jahre alt. Sie will, wie es sich ziemt für eine Dame mit erklärtem Schönheitssinn, in einem Traditionshotel mit Seeblick feiern, in dem schon Kaiserin Sissi gern verkehrte, ganz ohne Rummel und nur mit ihren etwa 180 engsten Freunden. Wenn also Siegfried und Roy, Uschi Glas und Alice Schwarzer mit von der Partie sind, ist das eine dezente Feier aus Sicht der Jubilarin. „Denn wissen Sie“, sagt sie, „ich habe gar nicht so viele Freunde hier. Meine Freunde leben meist im Ausland.“
Besuch bei der alten Dame: Ein Wohnzimmer mit Kunstbänden, ihren Fotos aus Afrika, tiefen Sesseln und Panoramascheibe, eine charmante Gastgeberin. Sie arbeitet noch immer den ganzen Tag, geht spazieren, beantwortet Post, bereitet eine Ausstellung vor: „Vor Mitternacht komme ich nicht ins Bett.“
Sie muss nun öfter Tabletten nehmen, gegen die Schmerzen. Doch ihre Augen sind so hellwach wie ihr Geist, und es fällt gar nicht schwer, sich die Faszination vorzustellen, die von dieser Frau ausging und die sie zum Darling des Dritten Reiches werden ließ, für das sie Dokumentationsfilme von nie gesehener Suggestionskraft drehte: Die Verherrlichung der NSDAP-Parteitage 1933 und 1934 durch „Der Sieg des Glaubens“, „Triumph des Willens“ und „Tag der Freiheit!“, und – als Krönung – ihre revolutionären Filme über Olympia 1936.
Wenn Goebbels schwärmt
Noch immer provoziert sie wütende Ablehnung ebenso wie blinde Anhimmelei. Manche Riefenstahl-Hasser klingen fast, als seien noch die bunten Korallen irgendwie faschistisch, die sie zuletzt in der Südsee mit der Unterwasserkamera filmte; Alice Schwarzer dagegen erhob die enge Freundin des Führers zur Heroin der Frauenbewegung, als schließe allein ihre Weiblichkeit jegliche Verführbarkeit durch den Faschismus wie selbstverständlich aus.
Glaubt man der greisen Künstlerin, dann dürfte in der NS-Diktatur wohl niemand so zu seinem Glück gezwungen worden sein wie ausgerechnet sie. Das sagt heute Leni Riefenstahl, „die einzige von all den Stars, die uns versteht“ (Joseph Goebbels 1933 in seinem Tagebuch). Nie habe sie das Regime unterstützt, immer auf Distanz geachtet, nur getan, was sie nicht vermeiden konnte. Das sagt die Frau, die Hitler in „Triumph des Willens“ vom Himmel zu den Deutschen herabsteigen ließ wie einen Heiland zu seinen Jüngern? „Das“, sagt sie, „war doch ein reiner Dokumentarfilm, kein Propagandafilm.“ Und: „Er enthielt doch kein einziges antisemitisches Wort.“ Ist es ihre Schuld, dass er sich für die Propaganda eignete?
Fast jeder, der ernsthaft versuchte, mit ihr über Schuld und Verstrickung in den dunklen Jahren zu sprechen, hat ähnliche Erfahrungen gemacht wie der Kölner Filmwissenschaftler Jürgen Trimborn, der in seiner Riefenstahl-Biographie („Eine deutsche Karriere“) beschreibt, wie schnell er die Hoffnung verlor, „dass mit ihr gemeinsam eine Annäherung an ihr Leben und an die Hintergründe ihrer außerordentlichen Karriere möglich sein könnte“. Leni Riefenstahl gibt sich, wie sie es immer getan hat, als verfolgte Unschuld. Ihre Form der Wirklichkeitsverweigerung erklärt sich keineswegs aus dem Alter. Sie ist vollkommen gleich geblieben von den ersten Verhören durch den Intelligence Service der 7. US Army in Dachau 1945 bis heute.
„Einstieg in die Hölle“
Vielleicht hilft es einer Annäherung an das Phänomen Riefenstahl auch gar nicht weiter, wenn man sie als „Nazi Pin-Up“ oder „Nazisse“ verstehen will, wie es ihre Schmäher taten. Sie war keine Gläubige des Regimes. Vielleicht ist die Wahrheit eher die, dass die Ideologie der Nationalsozialisten Leni Riefenstahl ziemlich gleichgültig war. Sie betete sie nicht nach, und sie störte sich nicht daran (wie sie später behauptete): Die Ideologie war ihr egal. Ihr Denken kreiste nur um einen Fixpunkt: sich selbst.
Leni Riefenstahl war schon in den Zwanzigern ein Star, eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit und noch außergewöhnlicherem Glauben an die eigenen Fähigkeiten. Sie brach die Herzen der Männer und die Konventionen der Männerwelt, sie war eine gefeierte Tänzerin, bejubelt von der Presse: „Leni Riefenstahls höchstes Künstlertum quillt aus ihrer Innerlichkeit.“ Nach einer Knieverletzung wechselte sie zum jungen Genre des Bergfilms und wurde in Rollen wie „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ endgültig berühmt. 1932 drehte sie erstmals selbst, den mystisch verzauberten Film „Das blaue Licht“. Sie spielte darin Junta, ein Mädchen, das oben in den Bergen das Geheimnis der Kristalle hütet. Als habgierige Dörfler ihre Höhle entdecken, ist es um sie geschehen. Sie stürzt in die Tiefe. Heute sagt sie: „Im Grunde ist mein Schicksal dem der Junta ganz ähnlich. In ihr ging etwas zugrunde. Sie musste die Zerstörung ihres Ideals erleben.“
Und dieses Ideal war Hitler. Man muss ihr zugute halten, dass sie wenigstens in einem Punkt stets ehrlicher war als viele Zeitgenossen: „Ich war anfangs sehr beeindruckt von Adolf Hitler.“ Er war fasziniert von „Das blaue Licht“, sie hatte ihn schon 1932 um ein Treffen gebeten, es entwickelte sich ein enges Verhältnis, fast eine persönliche Freundschaft. Hitler wusste, was er an ihr hatte. Die begnadete Regisseurin zeigte ihren Führer, wie er sich und sein Regime gesehen haben wollte: stark, unbesiegbar, verehrt.
Es war der Triumph der Gipfelstürmerin. Sie sah die Bläue des Zenits. Sie schien zu träumen. Sie schwebte, sie glaubte zu fliegen. Jeder Traum würde Wirklichkeit werden, wenn sie es nur wollte. Und sie wollte.
Dank Hitler hatte sie alles. Leni Riefenstahl ist für ihren Aufstieg das eingegangen, was Hitlers Architekt Albert Speer am eigenen Beispiel und in seltener Aufrichtigkeit einen faustischen Pakt nannte. Für dessen Preis fehlt ihr bis heute jedes Bewusstsein. Die Passagen ihrer Memoiren über jene Frühzeit des NS-Regimes lesen sich wie eine selbstverliebte Soap Opera zwischen Braunem Haus und Reichskanzlei. Sie lebte im Reich unbegrenzter Möglichkeiten, doch sie hatte ihre Seele verkauft.
Es ging ihr wie Orson Welles in dem Filmklassiker „A Touch of Evil“. Darin spielt Welles einen Mann des Gesetzes, der Macht und Reichtum gewann, indem er sich mit dem Bösen verbündete. Am Ende, bevor ihn dieser Pakt alles kostet, geht er zu einer Wahrsagerin: „Lies mir die Zukunft aus der Hand“, und sie sagt: „Du hast Deine Zukunft aufgebraucht.“ Die Berührung des Bösen hat Leni Riefenstahl für immer gezeichnet.
Und sie hat nach 1945 immer gehofft, insgeheim sogar erwartet, die goldenen Jahre kämen zurück. Eigentlich, so mag sie gedacht haben, stehe ihr das Glück doch zu, habe sie ein Anrecht auf Ruhm und Glanz und Verehrung, ganz so, als ob es für Leni Riefenstahl keinen anderen Platz als den an der Sonne geben könne. Doch das Glück kehrte nicht wieder. Die erste Zeit nach dem Krieg, sagt sie, „war der Einstieg in die Hölle“.
Sie fiel, sie stürzte, sie schien den Boden nicht wieder zu finden. Jeder Traum blieb von nun an unerfüllt, und sei es nur, weil die Privilegien von einst verschwunden waren. Sie flüchtete in eine neue Leidenschaft, die Fotografie. Beim unberührten Stamm der Nuba im Sudan erlebte sie „eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens“, ihre Fotos bescherten ihr eine Ahnung früherer Erfolge. Von der schwarzen Front zum schwarzen Mann? Die reichlich skurrile Debatte, ob die nackten wilden Krieger im Riefenstahlschen Werk so etwas wie unfreiwillige Wiedergänger der muskelbepackten NS-Athleten von 1936 sind, hat viele kluge Menschen beschäftigt. Aber da ist eine ganz andere Frage, der entkommt sie nicht, auch nicht mit 100 Jahren.
Statisten aus dem Lager
Um das zu verstehen, muss man weit zurückschauen. Damals, als Leni Riefenstahl gern mit ihrem Führer zu Abend speiste und die Sonne seiner Gunst genoss, zog ein kleines Zigeunermädchen mit ihrer Großfamilie durch Österreich. Von der Riefenstahl hatte Rosa Winter, Tochter von Marie Kerndlbacher, noch nie gehört. Sie wurde 1923 geboren und wuchs im Wagen auf, einem nach Sintiart, mit rundem Dach, Oberlichtern und bunten Klappläden. Lesen und schreiben lernte sie nie. Sie begriff nicht, was „Anschluss“ hieß, verstand nicht, warum ihr Vater nach dem Einmarsch der Wehrmacht plötzlich verschwand. 1938 verhaftete ihn die Polizei, sie sah ihn nie wieder. Rosa wurde 1939 mit ihrer Mutter und den elf Geschwistern ins Internierungslager Maxglan bei Salzburg gebracht. Die Kinder mussten mit zur Zwangsarbeit, zum Straßenbau.
Und dann traf sie auf Leni Riefenstahl. 1939 hatte diese Wehrmachtsverbrechen in Polen erlebt und die Uniform der Kriegsberichterstatterin wieder ausgezogen; ihr Stern begann zu sinken, freilich nicht sehr tief. Fortan widmete sie sich bei Mittenwald im Karwendelgebirge ihrem Spielfilmprojekt „Tiefland“, einem seltsamen, in Spanien spielenden Dorfdrama, dem nun im Krieg nur leider ein wichtiges Element fehlte: echte Spanier. Da die Bergbauern der Umgebung als authentischer Ersatz nicht wirklich geeignet zu sein schienen, fand Leni Riefenstahl ihre Komparsen anderswo, gleich in der Nähe: im Lager Maxglan. Auch Rosa Winter war dabei.
Kam die Riefenstahl persönlich dorthin, um die Darsteller auszusuchen? Rosa Winter glaubt sich daran zu erinnern, aber sie weiß es nicht mehr genau. Doch sie erinnert sich gut an die Dreharbeiten. „Ja die Frau Riefenstahl“, sagt sie, „das war eine wunderschöne Frau. Wir Mädchen haben sie sehr bewundert.“ Rosa Winter ist eine ältere Dame, sie lebt heute in einer kleinen Stadt an der Enns, in einem alten Mietshaus nicht weit vom Fluss. „Sie hat uns gut behandelt und war immer sehr höflich.“ Leni Riefenstahl schreibt in ihren Memoiren: „Die Zigeuner waren unsere Lieblinge.“
Aber damit ist Rosa Winters Geschichte nicht zu Ende. Eines Tages habe sie erfahren, dass ihre Mutter in ein anderes Lager gebracht werden sollte. Rosa riss aus, wurde aber an der Landstraße aufgegriffen und nach Salzburg zurückgebracht. Im Gefängnis traf sie ihre Mutter, die man in Sippenhaft genommen hatte, beide saßen in einer Zelle. „Wir waren zwei oder drei Tage dort“, sagt die alte Frau, „dann ging die Zellentür auf. Und die Frau Riefenstahl stand da. Sie ist ins Gefängnis kummen mit ganz einem hohen Herrn dabei.“
Warum bist Du fortgelaufen, habe die berühmte Frau gefragt und verlangt: Entschuldige Dich. Ihre Mutter fiel, so erzählt Rosa Winter, auf die Knie und flehte um ihr Kind. War das nicht genug? Aber Rosa, 16 Jahre alt, war bockig, sie weigerte sich. „Da hat die Frau Riefenstahl gesagt: ,Dann kommst Du eben ins Konzentrationslager.’“
1941 wurde Rosa Winter nach Ravensbrück deportiert. Sie überlebte vier Jahre in der Hölle. Es war eine andere Hölle als die der Regisseurin, die sich nach dem Krieg verkannt fühlte. Rosa Winters elf Geschwister, Vater und Mutter kamen darin um: „Wenn ich gewusst hätte, was ein Konzentrationslager ist, hätt’ ich der Frau Riefenstahl halt die Füße abgebusselt.“ Aber sie hat es nicht gewusst. Und dann? „Dann war es vorbei. Die Tür ist zugangen, aus und fertig.“ Empfindet sie Hass? Nein, sagt sie schlicht: „Ins Lager wäre ich so oder so gekommen.“
Fast alle „Tiefland“-Komparsen aus Salzburg (und später aus Berlin) sind in Auschwitz gestorben, das haben Historiker ebenso exakt belegt wie der Sinti- und Roma-Verein „Ketani“ aus Linz. Maxglan war eine typische Vorstufe im Vernichtungsprozess. Der Konzentration folgte die Deportation und dieser der Tod. Ob Leni Riefenstahl ihre Zigeuner hätte schützen können? Sie für „unabkömmlich“ erklären lassen, bis der Krieg vorüber war? Das lässt sich nicht seriös beantworten. Den Sinto Matthias Krems soll sie, wie dessen überlebende Schwester Anna mehrmals berichtete, aus Buchenwald herausgehol t haben. Aber später wurde er dennoch deportiert und starb. Rosa Winter sagt: „Sie hätte es nur versuchen müssen, die Sinti würden sie heute als Heilige verehren.“
Aber das sind gar nicht die Fragen, die sich Leni Riefenstahl stellt. Sie bestreitet schlicht, dass eine Rettung nötig war. Noch mit fast 100 gerät sie in enorme Wut, wenn die Rede auf die Sinti kommt: „Die Zigeuner haben mich doch geliebt.“ Ihr Lebensgefährte Horst Kettner kommt hinzu und beginnt zu schreien: „Die Vorwürfe, das sind alles Lügen.“
In ihren Memoiren schrieb sie 1987 kurz über die Zigeuner (um danach ausführlich darüber zu klagen, dass in Mittenwald seinerzeit einfach kein gezähmter Wolf aufzutreiben war, bis Dr. Grzimek aus seinen Beständen Abhilfe schuf): „Wir haben sie nach dem Krieg fast alle wiedergesehen. Die Arbeit mit uns sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen, erzählten sie.“ Erst jetzt, nachdem eine Überlebende und der Roma-Interessenverein „Rom“ auf Widerruf klagten, rückte sie davon ab, ein typisches Verhalten für sie: Gebe nur zu, was nicht mehr zu widerlegen ist.
Sie ihrerseits hat viele Prozesse geführt. In einem Verfahren gegen die Filmemacherin Nina Gladitz erzielte sie 1985 nur Teilerfolge. Das Landgericht Freiburg stellte fest, sie „habe Zigeuner aus dem Konzentrationslager Maxglan zwangsverpflichtet“, zu ihrem „persönlichen Nutzen“. Es war aber nicht beweisbar, dass Riefenstahl über das spätere Schicksal ihrer Komparsen informiert war, auch nicht, dass sie sie persönlich in Maxglan ausgesucht habe.
Was bleibt? Ein beklemmender Film, der 1954 sogar noch kurz in die Lichtspielhäuser kam. Riefenstahl in der Rolle der glutäugigen Zigeunerbraut, die echten Zigeuner als Dorfvolk verkleidet, Todgeweihte vor Pappkulissen, lachende Kinder unter einer falschen spanischen Sonne. Fotos zeigen die Riefenstahl am Drehort, heiter und gelöst, ein Star ohne Sorgen, beschäftigt nur mit sich selbst.
Zu einigen wenigen Überlebenden hatte die Riefenstahl nach dem Krieg noch kurzen Kontakt, sie erhielt Briefe, die ihr für einen Prozess bestätigten, sie auf dem Set gut behandelt zu haben. Erika Thurner, Geschichtsprofessorin in Innsbruck, erforscht seit Jahren das Schicksal der österreichischen Sinti und Roma. Sie kennt die Dokumente der Vernichtung, die Fakten des Grauens, von denen die greise Künstlerin so gar nichts wissen mag. All die umgekommenen Komparsen, sagt Erika Thurner, „hat es für Frau Riefenstahl gar nicht mehr gegeben. Sie waren für immer fort. Und es hat ja auch selten jemand nach ihnen gefragt.“
Was Rosa Winter verlor
Nie kam die Künstlerin dem Bösen so nah wie damals im Karwendelgebirge, nie wurde deutlicher, dass man einem Terrorregime nicht zugleich freudig dienen und die Unschuld der unpolitischen Künstlerin bewahren kann. Auch wenn sie sich nun später Anerkennung erfreut, als eine Art Pop- Ikone gilt, man ihre Bilder wieder zeigt, wenn ihr Korallen-Film, eine späte Hommage an die Schönheit, im Fernsehen gebracht wird, und Jodie Foster ihr Leben verfilmen will: Die Erinnerung an die toten Komparsen wird sie nicht loslassen.
Die Tage der großen Flut in Österreich. An der Enns steigt das Wasser. Es bricht durch die Baumreihen wie ein Sturzbach. Wo eben noch Wiese war, kriecht es graubraun heran. Rosa Winter bringt hoch zu den Nachbarn, was ihr wichtig und teuer ist, das ist nicht viel. Der Farbfernseher, das alte Porzellan mit dem Bild des habsburgischen Kaiserpaars, die Kruzifixe und die Bilder der Ermordeten; die Familie, all ihre Toten. Ein paar Stunden später steht das Wasser im Haus. Feuerwehr, Blaulicht, hastig errichtete Sandsackwälle. Rosa Winter nimmt die Flut gelassen. Sie sagt ohne jedes Pathos: „Was ist eine Wohnung? Ich habe ganz andere Dinge verloren.“
„Denn wissen Sie, ich habe gar nicht so viele Freunde hier“ –Leni Riefenstahl in ihrem Haus am Starnberger See.
SZ
Statisten aus dem KZ
Pünktlich zu ihrem 100. Geburtstag am 22. August wird Deutschlands berühmteste und umstrittenste Filmregisseurin mit neuen Vorwürfen konfrontiert. Leni Riefenstahl soll gewusst haben, dass die Statisten ihres letzten Spielfilms "Tiefland", den sie 1940-1944 drehte, Sinti und Roma aus NS-Lagern waren, die nach den Dreharbeiten nach Auschwitz deportiert wurden und dort umkamen.
Riefenstahl unterschreibt Unterlassungserklärung
In einem Zeitungs-Interview hatte Riefenstahl behauptet, dass sie alle "Zigeuner", die ab 1940 als Komparsen in ihrem Streifen mitgespielt haben, nach Kriegsende wiedergesehen habe und dass keinem einzigen etwas passiert sei. Diese Behauptung darf die fast Hundertjährige nicht länger aufstellen und musste eine entsprechende Unterlassungserklärung unterschreiben.
Mit Unterstützung des Vereins Rom e.V, der sich für die Verständigung von Sinti und Roma und Nicht-Roma einsetzt, hatte die überlebende Zwangsarbeiterin Zäzilia Reinhardt diese Erklärung erwirkt. Die 76-Jährigen war als Jugendliche zur Mitwirkung an dem Film gezwungen worden. Nach Recherchen des Vereins Rom e.V. traf dieses Schicksal zwischen 1940 und 1944 rund 120 Sinti und Roma aus den Lagern Max Glahn bei Salzburg und Marzahn (Berlin). Nach Angaben des gemeinnützigen Vereins wurden nachweislich zahlreiche Beteiligte später in den Vernichtungslagern getötet. Der Verein Rom veröffentlichte eine Liste mit den Namen von 48 von Riefenstahl angeforderten "Zigeunern". Ein Abgleich habe ergeben, dass mehr als zwanzig der 48 Sinti und Roma in Konzentrationslagern endeten.
Nur eine kleine Genugtuung für die Opfer
Der Vereinsvorsitzende Kurt Holl bezeichnete die Rücknahme dieser in einem Zeitungsinterview gemachten Behauptungen als eine "kleine Genugtuung" für die damaligen Statisten. Man wolle aber auch erreichen, dass die Überlebenden, die nie einen Statistenlohn bekommen hätten, eine Entschädigung erhielten. Außerdem will "Rom e.V." nun darauf drängen, dass im "Tiefland"-Streifen künftig im Vor- oder Nachspann die Namen und das Schicksal aller mitwirkenden Sinti und Roma aufgeführt werden.
Der Kölner Verein hat zudem bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main Strafantrag gegen Riefenstahl wegen Leugnung des Holocaust gestellt. Der Kölner Journalist und Schriftsteller Günther Wallraff nahm das juristische Vorgehen des Vereins zum Anlass für schwere Vorwürfe gegen die Regisseurin. Riefenstahl sei eine "glühende Hitler-Verehrerin" und "furchtbare Propagandistin" gewesen, sagte das Vorstandsmitglied von "Rom e.V.".
Alles nur ein Missverständnis?
Inzwischen bezeichnete Riefenstahl ihre Aussagen in einer Presseerklärung als "Missverständnis". Sie sei "bestürzt und entsetzt", dass Mitwirkende des Films im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wurden. Sie wehrt sich aber bis heute gegen den Vorwurf, die Gefangenen selbst ausgewählt zu haben.
"Tiefland" - ein Kampf zwischen Gut und Böse
"Tiefland" basierte auf einer Oper nach einem alten spanischen Volksstück, das den Kampf zwischen Gut und Böse in die Welt der "Zigeuner" überträgt. Das Stück hatte erst 1954 Premiere. In der Nachkriegsfassung waren zahlreiche der "Zigeuner-Szenen" herausgeschnitten worden.
Die Hauptrolle spielte Riefenstahl persönlich. Nach Angaben verschiedener Biografen hat Adolf Hitler den Stoff persönlich sehr geschätzt, er selbst soll die rund sieben Millionen Reichsmark Produktionskosten aus den Staatsetat angewiesen haben. Für die Dreharbeiten wurden die Sinti und Roma auf einem lagerähnlichen Areal eingepfercht.
Ein Leben zwischen Tanz, Film und Fotografie
Riefenstahl, die am 22. August 100 Jahre alt wird, dokumentierte während der Nazi-Zeit unter anderem den Reichsparteitag der NSDAP 1934 in "Triumph des Willens" und die Olympischen Spiele 1936. Nach 1945 litt sie unter den ausbleibenden Film-Aufträgen. Sie wandte sich der Fotografie zu und veröffentlichte in den 70er Jahren Reportagen über ihre Aufenthalte beim sudanesischen Nuba-Stamm.
Der Aussicht dass die US-Schauspielerin Jodie Foster ihr Leben verfilmen will, sieht die Riefenstahl hoffnungsfroh entgegen. Allerdings will sie sicherstellen, "dass meine Memoiren wahrheitsgetreu verfilmt werden". Notfalls wolle sie klagen.
Die 1902 in Berlin geborene ehemalige Tänzerin lebt am Starnberger See
- war nicht dabei,
- ging damals nur blind durchs Leben.
Wie alle, diese Oberganoven und Helfershelfer der Hyperverbrecher!
Alle waren sie unschuldig.
http://www.rudolf-hess.de/pix/hessi.gif"
Rudolf Heß
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Lebenslauf
26. April 1894 Geburt in Alexandrien, Ägypten, als ältester Sohn von Fritz und Clara Heß
15. September 1908 Eintritt in das Jugendinternat in Bad Godesberg
04. September 1914 Erster Einsatz als Freiwilliger beim 1. Bayerischen Infanterieregiment an der Westfront
13. Dezember 1918 Entlassung aus dem aktiven Wehrdienst
01. Juli 1920 Eintritt in die NSDAP, Mitglied Nummer 16
09. November 1923 Teilnahme am "Hitlerputsch", Verurteilung zu 2 ½ Jahren Haft in der Festung Landsberg
31. Dezember 1924 Entlassung aus Landsberg
20. Dezember 1927 Heirat mit Ilse Heß, geborene Pröhl
21. April 1933 Von Hilter zum "Stellvertreter des Führers der NSDAP" ernannt
02. Dezember 1933 Ernennung zum "Reichsminister ohne Geschäftsbereich" durch Reichspräsident von Hindenburg; dazu Ernennung zum SS-Obergruppenführer
18. November 1937 Geburt des einzigen Kindes Wolf Rüdiger
04. Februar 1941 Mitglied des Geheimen Kabinettsrates
10. Mai 1941 Flug nach Schottland (siehe dazu Der Flug am 10. Mai 1941)
01. Oktober 1946 Vom Internationalen Militärtribunal in Nürnberg zu lebenslanger Haft verurteilt
18. Juli 1947 Überführung in das Alliierte Militärgefängnis in Berlin-Spandau
01. Oktober 1966 Entlassung von Speer und v. Schirach; Verbleib als einziger Gefangener im 600 Mann Gefängnis in Spandau
13. April 1987 Artikel im Spiegel Nr. 16 von 1987: "Läßt Gorbatschow Heß frei ?"
17. August 1987 Tod im englischen Militärhospital in Berlin (siehe Der 17. August 1987)
Politiker
1932
20. Juli: Otto Georg Schily wird in Bochum als Sohn des Hüttendirektors Dr. phil. Franz Schily geboren.
1941
Nationalsozialisten beschlagnahmen Bücher der Eltern, die als Anthroposophen bekannt sind.
1962
Absolvierung des zweiten Staatsexamens nach dem Studium der Rechtswissenschaften in München und Hamburg sowie der Politikwissenschaften an der Hochschule für Politik in Berlin.
Schily engagiert sich politisch, steht dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) nahe und freundet sich mit Rudi Dutschke und Horst Mahler an.
1963
Eröffnung einer eigenen Anwaltspraxis.
1971
Schily verteidigt Horst Mahler, der aufgrund seiner Kontakte zur RAF vor Gericht steht. Schily lehnt das Schwurgericht wegen Befangenheit ab und beantragt, das Verfahren einzustellen.
1975-1977
Im Stammheim-Prozeß ist Schily als Vertrauensanwalt von Gudrun Ensslin der einzige nicht entpflichtete Anwalt. Noch Jahre später muß Schily versichern, sich nicht mit den Zielen der RAF zu identifizieren und sich gegen den Vorwurf wehren, er habe die Terroristen in Stammheim aktiv unterstützt.
1980
Eintritt in die Partei Die Grünen.
1981
Kandidatur bei den Kommunalwahlen in West-Berlin für die Grünen.
1983-1986
Mitglied des Bundestages für Die Grünen. 1983 wird Schily neben Petra Kelly und Marieluise Beck-Oberdorf (geb. 1952) Mitglied des "Sprecherrates" der Grünen Bundestagsfraktion. Infolge der Ämterrotation verzichten die drei 1984 auf eine weitere Kandidatur für den Sprecherrat.
Schily gilt als "Realo" innerhalb der Grünen. So empfiehlt er seiner Partei für die Zeit nach der Bundestagswahl 1987 auf ein Bündnis mit der SPD hinzuarbeiten. Außerdem spricht er sich für die Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols aus. Beide Äußerungen stoßen bei den "Fundamentalisten" der Partei auf heftigen Widerstand.
1985
Die Partei der Grünen ist in der Frage der Koalitionsbereitschaft mit anderen Parteien gespalten. In Hessen bilden die Grünen eine Regierungskoalition mit der SPD. Die sogenannten Fundamentalisten um Petra Kelly lehnen dies ab, sie wollen keine Beteiligung an politischer Macht, die mit Kompromissen verbunden wäre. Realpolitiker wie Joschka Fischer und Schily hingegen wollen im Rahmen der parlamentarischen Demokratie "grüne" Vorstellungen verwirklichen. Bevorzugter Bündnispartner ist dabei die SPD. Zunehmend setzt sich der Kurs der "Realos" in der neuen Partei durch.
1986
Januar: Schily stellt Strafanzeige gegen Bundeskanzler Helmut Kohl wegen des Verdachts der Falschaussage vor den Untersuchungsausschüssen im Bundestag und im Mainzer Landtag zur Parteispenden-Affäre. Am 20. Februar nimmt die Koblenzer Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen den Bundeskanzler auf, das am 20. Mai aus Mangel an Beweisen wieder eingestellt wird.
Schily weigert sich im Zuge des Rotationsprinzips sein Bundestagsmandat niederzulegen solange der Parteispenden-Untersuchungsausschuß arbeitet. Erst nach Beendigung der Ausschuß-Arbeit tritt er zurück. Die Partei kritisiert dieses Verhalten.
Veröffentlichung der Abhandlungen "Vom Zustand der Republik" und "Politik in bar. Flick und die Verfassung der Republik".
1987-1989
Schily ist erneut Mitglied des Bundestages für die Grünen. Nach den schlechten Wahlergebnissen 1987 bei den Landtagswahlen in Hamburg und Rheinland-Pfalz und dem Scheitern der rot-grünen Koalition in Hessen verschärfen sich die innerparteilichen Auseinandersetzungen zwischen den "Fundamentalisten" und den "Realpolitikern" um Joschka Fischer und Schily innerhalb der Partei.
Nach einer Auseinandersetzung auf dem Parteitag in Oldenburg äußert Schily erstmals den Gedanken aus der Partei auszutreten.
1989
Schily kandidiert für den neuen Fraktionsvorstand der Grünen, wird aber nicht gewählt.
Parteiintern kann er sich mit seinen Vorstellungen einer rot-grünen Reformkoalition für die Bundestagswahl 1990 nicht durchsetzen.
November: Schily tritt bei den Grünen aus und legt sein Bundestagsmandat nieder.
Anschließend wird er Mitglied der SPD.
1990 bis 1994
Mitglied des Bundestages für die SPD. In der ersten Legislaturperiode stellt die Presse fest, daß sich Schily eher zurückhält und kaum als Redner im Bundestag in Erscheinung tritt.
Mitglied des Ausschusses für Wirtschaft sowie des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des Bundestages.
Veröffentlichung der Schrift "Natur und Geld. Um die Finanzierung lebenswichtiger ökologischer Projekte" (1990).
1992
Schily übernimmt die Verteidigung des wegen Wahlfälschung angeklagten Dresdner Oberbürgermeisters Wolfgang Berghofer (geb. 1943).
1993-1994
Vorsitzender des Treuhand-Untersuchungsausschusses des Bundestages.
1994
Januar: Schily übt Kritik an der Praxis der Treuhandanstalt sowie der Bundesregierung, Akten über Privatisierung ostdeutscher Unternehmen geheimzuhalten.
Veröffentlichung der Schrift "Flora, Fauna und Finanzen".
1994-1998
Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Schily ist für die Koordinierung der Innen- und Rechtspolitik in der Fraktion verantwortlich.
Ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß, im Richterwahlausschuß, im Wahlausschuß für die im Bundestag zu berufenden Richter des Bundesverfassungsgerichtes und stellvertretendes Mitglied im Innen- und Rechtsausschuß.
1998
27. September: Bei der Bundestagswahl erreicht die SPD 40,9 % der Stimmen und Bündnis 90/Grüne 6,7 %, damit erringen sie zusammen die absolute Mehrheit der Mandate.
27. Oktober: Gerhard Schröder wird vom Bundestag zum siebten deutschen Bundeskanzler gewählt. Schily übernimmt das Bundesinnenministerium im neuen Kabinett der rot-grünen Koalition.
November: Schily äußert die Meinung, die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands sei im Hinblick auf die Zuwanderung von Ausländern überschritten.
1999
Februar: Schily leitet die Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften über die Tarife im Öffentlichen Dienst in Deutschland.
März: Die Partei- und Fraktionsführung von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. einigen sich auf Änderungen im Staatsbürgerschaftsrecht. Die Einigung mit der F.D.P. wird aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nötig. Schily führt die abschließenden Verhandlungen mit Vertreten der F.D.P.
Mai: Der Bundestag verabschiedet eine Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Dieses sieht unter anderem vor, daß in Deutschland geborene Kinder ausländischer Mitbürger automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, sich jedoch spätestens mit dem 23. Lebensjahr für eine ihrer beiden Staatsbürgerschaften entscheiden müssen. Schily begrüßt den Kompromiß als einen Schritt von historischer Dimension.
September: Nach einem Besuch im Kosovo plädiert Schily dafür, mit der Rückführung der rund 180.000 in Deutschland lebenden Kosovo-Albaner zu beginnen.
November: Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck (geb. 1952), kritisiert Schilys Äußerung, 97 % der Asylbewerber seien Wirtschaftsflüchtlinge.
November: Schilys Forderung, die Einkommenszuwächse der Beamten auf einen Inflationsausgleich zu beschränken, stößt auf heftige Kritik des Deutschen Beamtenbundes.
Dezember: Die Bundesregierung beschließt auf Schilys Vorschlag hin ein Modernisierungsprogramm der Bundesverwaltung.
(iz)
Vortrag von Dr. Walter Post auf der Mitgliederversammlung der Rudolf Hess Gesellschaft am 15. November 1997 in München.
Der Flug von Rudolf Hess am 10. Mai 1941 nach Großbritannien und der Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941.
In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wurde die internationale Politik zunehmend von Spannungen beherrscht: Der Einfall Japans in Zentralchina, die Annexion Abessiniens durch Italien, die deutsch-italienische Intervention im spanischen Bürgerkrieg, vor allem aber die Revision des Versailler Vertrages durch Hitler sowie schließlich die wirtschaftspolitischen Gegensätze zwischen Deutschland und den Westmächten.
Hitlers erklärtes Ziel war die Beseitigung der Ordnung von Versailles und die Errichtung einer direkten oder indirekten deutschen Hegemonie in Mittel- und Osteuropa. Dies mußte fast zwangsläufig zu einem Konflikt mit den Nutznießern des Versailler Systems, England und Frankreich führen.
Nach dem Anschluß Österreichs und des Sudetengebiets sowie der Besetzung der "Rest-Tschechei" im März 1939 versuchte die britische Regierung, eine große antideutsche Koalition, bestehend aus Großbritannien, Frankreich, Polen, Rumänien und der Sowjetunion zustande zu bringen. Diese Koalition hätte das nur unvollständig aufgerüstete Deutschland erdrückt, und Hitler sah sich mit dem Gespenst der Einkreisung konfrontiert. Tatsächlich verhandelte im Sommer 1939 eine britisch-französische Militärdelegation in Moskau über ein Bündnis. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich waren in den vergangenen Jahren schlecht gewesen, aber getreu dem bereits von Lenin formulierten Grundsatz, die "kapitalistischen Imperialisten" gegeneinander auszuspielen, beschloß Stalin, die schwächere Partei, und das war in diesem Falle Deutschland, zu unterstützen.
Stalin signalisierte Berlin seine Bereitschaft, ein Bündnis abzuschließen, und Hitler erkannte sofort die Chance, die drohende Einkreisung Deutschlands zu verhindern. Die Verhandlungsgrundlage für dieses Bündnis war die Aufteilung Polens und Osteuropas in eine deutsche und in eine sowjetische Einflußsphäre.
Am 19. August 1939 wurden die Mitglieder des Politbüros der KPdSU und führende Vertreter der Komintern zu einer geheimen Sitzung zusammengerufen. Stalin erklärte den Anwesenden: "Die Frage Frieden oder Krieg tritt für uns in eine kritische Phase. Wenn wir mit Frankreich und Großbritannien einen Vertrag über gegenseitige Hilfe schließen, wird Deutschland auf Polen verzichten und beginnen, einen modus vivendi mit den westlichen Staaten zu suchen. Der Krieg wird abgewendet werden, aber im weiteren Verlauf können die Ereignisse für die UdSSR einen gefährlichen Charakter annehmen. Wenn wir auf den Vorschlag Deutschlands eingehen, mit ihm einen Nichtangriffspakt abzuschließen, wird es natürlich über Polen herfallen und das Eingreifen Frankreichs und Englands in diesen Krieg wird unausweichlich. Westeuropa wird ernstzunehmender Unruhe und Unordnung ausgesetzt sein. Unter diesen Umständen werden wir viele Möglichkeiten haben, bei diesem Konflikt abseits zu stehen, und wir werden hoffen können, in vorteilhafter Weise in diesen Krieg einzutreten.
Die Erfahrung der letzten 20 Jahre zeigt, daß es in Friedenszeiten unmöglich ist, in Europa eine kommunistische Bewegung zu haben, die stark genug wäre, daß die bolschewistische Partei die Macht erobern könnte. Die Diktatur dieser Partei wird erst als Resultat eines großen Krieges möglich sein. Wir werden unsere Wahl treffen und sie wird eindeutig sein. Wir müssen den deutschen Vorschlag annehmen und die englisch-französische Mission zurückschicken. Der erste Vorteil, den wir ziehen werden, wird die Vernichtung Polens sein . . . "
Stalin erörterte anschließend die Frage, welche Folgen sich aus einer Niederlage bzw. einem Sieg Deutschlands in diesem Krieg ergeben würden: "Im Falle seiner Niederlage wird sich unausweichlich die Sowjetisierung Deutschlands vollziehen und eine kommunistische Regierung wird sich stabilisieren . . . Unser Problem besteht darin, daß Deutschland diesen Krieg möglichst lange führen kann; Ziel dabei ist, daß England und Frankreich erschöpft und soweit ausgezehrt werden, daß sie zur Zerschlagung eines sowjetisierten Deutschland nicht mehr in der Lage sind.
Unter Beibehaltung einer neutralen Position und in Erwartung ihrer Stunde wird die UdSSR dem jetzigen Deutschland Hilfe leisten, indem sie es mit Rohstoffen und Lebensmitteln versorgt . . . Gleichzeitig müssen wir eine aktive kommunistische Propaganda treiben, namentlich im englisch-französischen Block und mit Vorrang in Frankreich . . .
Die Aufgaben der KPF werden in erster Linie Zersetzung und Demoralisierung von Armee und Polizei sein. Ist diese vorbereitende Arbeit in entsprechender Form durchgeführt, dann wird die Sicherheit eines sowjetischen Deutschland gewährleistet sein und dies wird die Sowjetisierung Frankreichs ermöglichen . . .
Wenn Deutschland den Sieg erringt, wird es aus diesem Krieg zu entkräftet hervorgehen, um - wenigstens im Laufe der nächsten zehn Jahre - einen bewaffneten Konflikt mit der UdSSR zu beginnen . . .
Vor uns wird ein weites Feld für die Entwicklung der Weltrevolution liegen. Genossen ! Es liegt im Interesse der UdSSR, der Heimat der Werktätigen, daß ein Krieg zwischen dem Reich und dem kapitalistischen englisch-französischen Block ausbricht. Es muß alles getan werden, damit sich dieser Krieg soweit wie möglich in die Länge zieht und beide Seiten erschöpft werden. Insbesondere aus diesem Grund müssen wir uns auf den Abschluß des von Deutschland vorgeschlagenen Paktes einigen und darauf hinarbeiten, daß dieser Krieg, der einmal erklärt werden wird, sich möglichst lange ausdehnt. Es wird erforderlich sein, die Propagandaarbeit in den kriegsführenden Staaten zu verstärken, um auf den Zeitpunkt vorbereitet zu sein, wenn der Krieg endet . . . "
Am 23. August 1939 unterzeichneten Reichsaußenminister Ribbentrop und der Volkskommissar für Äußeres Molotow in Moskau einen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt mit geheimen Zusatzprotokollen, in denen die territorialen Interessensphären abgegrenzt wurden. Außerdem wurden Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit abgeschlossen, die es dem Deutschen Reich erlaubten, die drohende und dann tatsächlich auch bald einsetzende Wirtschaftsblockade durch die Westmächte mit sowjetischer Hilfe zu umgehen.
Ohne die Sowjetunion waren England und Frankreich nicht in der Lage, Polen wirksam zu helfen; bis zum 17. September hatte die deutsche Wehrmacht die polnischen Streitkräfte zerschlagen, dann marschierte die Rote Armee in Ostpolen ein. Der polnische Staat hörte auf zu existieren. Das deutsch-sowjetische de-Facto-Bündnis wurde am 28. September 1939 durch einen Grenz- und Freundschaftsvertrag besiegelt.
Durch Stalins Politik, einen Nichtangriffspakt mit Deutschland abzuschließen, war in Europa ein Kräftegleichgewicht entstanden, bei dem sich Deutschland und Italien auf der einen sowie England und Frankreich auf der anderen Seite gegenüberstanden. Dies war die Voraussetzung für den von Stalin gewünschten langen Abnutzungskrieg von Faschisten und Imperialisten.
Am 10. Mai 1940 begann der Frankreichfeldzug, der nach 40 Tagen mit einem überwältigenden deutschen Sieg endete. Dies brachte Stalins Kalkulation gründlich durcheinander, denn Deutschland war aus diesem Krieg nicht etwa geschwächt, sondern durch die Kontrolle über das Europa zwischen Atlantik und sowjetischer Grenze erheblich gestärkt hervorgegangen.
Die Sowjetunion hatte im Winter 1939/40 Krieg gegen Finnland geführt, was in Berlin mit Unbehagen verfolgt worden war. Im Juni 1940 marschierte die Rote Armee in den Baltischen Staaten, in Bessarabien und der Nordbukowina ein, womit sich der sowjetische Machtbereich näher an die rumänischen Ölfelder heranschob.
Das militärische Kräfteverhältnis betrug im Juni 1940 in Osteuropa etwa sechs deutsche gegen 100-120 sowjetische Divisionen. Die deutsche Führung befaßte sich zu dieser Zeit in erster Linie mit Plänen für eine Landung in England, betrachtete die sowjetische Politik aber mit zunehmendem Unbehagen. Die brutale Sowjetisierung des Baltikums und die ständig wachsende Stärke der Roten Armee gaben Anlaß zur Sorge.
Anfang Juli 1940 traf der neue britische Botschafter Sir Stafford Cripps in Moskau zu Gesprächen mit Molotow und Stalin zusammen und versuchte, die Sowjetunion zu einem Bündniswechsel auf die Seite Großbritanniens zu gewinnen. Stalin und Molotow zeigten sich an den Vorschlägen von Cripps nicht uninteressiert.
Die deutsche Abwehr konnte den Inhalt dieser Geheimgespräche in Erfahrung bringen, und Hitler war auf das höchste alarmiert, denn es zeichnete sich damit eine Koalition England - USA - Sowjetunion ab, die Deutschland zu erdrücken drohte.
Bei einer Besprechung auf dem Berghof am 31. Juli 1940 befahl Hitler den Wehrmachtsführern, Studien für einen Feldzug gegen die Sowjetunion auszuarbeiten.
Die Planungen wurden in den folgenden Monaten von OKH und OKW ohne besonderen Nachdruck betrieben.
In diesem Sommer 1940 übte die Sowjetunion verstärkt Druck auf Finnland und Rumänien aus. Dies mußte Moskau zwangsläufig in einen Interessenkonflikt mit Berlin bringen, da die Nickelgruben von Petsamo in Finnland und die Ölfelder von Ploesti in Rumänien für die deutsche Kriegswirtschaft lebenswichtig waren.
Trotz der wachsenden Spannungen äußerte Hitler am 4. Oktober 1940 gegenüber dem italienischen Diktator Mussolini die Hoffnung, mit Stalin zu einem erneuten Interessenausgleich kommen zu können. Die deutschen Truppen im Osten wurden auf 35 Divisionen verstärkt, um den mehr als 100 Divisionen der Roten Armee ein Gegengewicht entgegenzusetzen.
Um die bestehenden Interessengegensätze auszuräumen, lud Hitler den Volkskommissar für Äußeres Molotow zu Gesprächen nach Berlin ein. Der deutsche Diktator hoffte, Stalin für einen Beitritt zu dem am 27. September 1940 zwischen Deutschland, Italien und Japan abgeschlossenen Dreimächtepakt gewinnen zu können. Ein Viermächtepakt, bestehend aus Deutschland - Italien - Japan und der Sowjetunion wäre eine unschlagbare Kombination gewesen, die die sich abzeichnende Koalition England - USA nicht zu fürchten gehabt hätte. Die Interessengegensätze aller vier Großmächte sollten ausgeglichen, die sowjetischen Expansionsbestrebungen in Richtung Indien und Persischer Golf, also Teile des Britischen Empire, gelenkt werden.
Molotow ging bei seinem Besuch in Berlin am 12. und 13. November 1940 auf Hitlers Vorschläge nicht ein; statt dessen beharrte der Volkskommissar hartnäckig auf den sowjetischen Interessen in Finnland und in Südosteuropa. Eine Sowjetisierung dieser Gebiete war aber aus den bekannten rüstungswirtschaftlichen Gründen für Hitler unannehmbar, ohne das rumänische Erdöl und den finnischen Nickel wäre die deutsche Kriegswirtschaft gelähmt gewesen. Aber damit nicht genug: Molotow meldete weitreichende Ansprüche Moskaus auf Skandinavien und den gesamten Balkan an. Bei Verwirklichung dieser Forderungen wäre Deutschland in gänzliche wirtschaftliche Abhängigkeit von der UdSSR geraten.
Nach seiner Rückkehr nach Moskau erklärte Molotow vor dem versammelten Politbüro: "Hitler sucht unsere Unterstützung im Kampf mit England und seinen Verbündeten. Wir müssen auf die Zuspitzungen ihrer Auseinandersetzungen warten. Hitler schwankt hin und her. Eines ist klar: Er wird sich nicht entschließen, einen Krieg an zwei Fronten zu führen. Ich glaube, wir haben Zeit, die Westgrenzen zu verstärken. Jedoch müssen wir beide Möglichkeiten im Auge behalten. Schließlich haben wir es mit einem Abenteurer zu tun."
Mit anderen Worten, die sowjetische Führung rechnete bereits mit einem Konflikt zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR. Tatsächlich hatten Generalstabschef Merezkow und der Volkskommissar für Verteidigung Timoschenko bereits fünf Wochen vorher, am 5. Oktober 1940, Stalin einen Operationsentwurf für einen Krieg gegen Deutschland vorgelegt.
Der Besuch Molotows in Berlin war zweifellos ein Wendepunkt in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Hitler hatte trotz erheblicher Bedenken versucht, zu einem langfristigen Interessenausgleich mit der Moskauer Führung zu kommen, um einen Kontinentalblock gegen die Angelsachsen zu bilden. Aber nun rückte ein Krieg in den Bereich des Unausweichlichen.
Am 18. Dezember 1940 unterzeichnete Hitler die "Weisung Nr. 21, Fall Barbarossa", in der es heißt: "Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen."
Damit war aber noch keine endgültige Entscheidung getroffen, denn an anderer Stelle heißt es ausdrücklich "daß es sich um Vorsichtsmaßnahmen handelt für den Fall, daß Rußland seine bisherige Haltung gegen uns ändern sollte."
Ab Mitte Januar setzte sich die erste von insgesamt fünf Staffeln des deutschen Ostaufmarschs langsam in Bewegung. Ab Mitte März trafen in Berlin laufend Meldungen über die Verstärkung der Roten Armee in den Westgebieten der UdSSR ein. Generaloberst Halder, Generalstabschef des OKH, glaubte zunächst nicht an sowjetische Angriffsvorbereitungen, machte sich aber ab Anfang März ernsthafte Gedanken: "Die russische Gliederung gibt zu Gedanken Anlaß: Wenn man sich von dem Schlagwort freimacht, der Russe will Frieden und wird nicht von sich aus angreifen, dann muß man zugeben, daß die russische Gliederung sehr wohl einen raschen Übergang zum Angriff ermöglicht, der uns außerordentlich unbequem werden könnte."
Am 6. April 1941 begann der deutsche Balkanfeldzug gegen Jugoslawien und Griechenland. Einen Tag vorher hatten Moskau und Belgrad einen Freundschaftspakt unterzeichnet, der der deutschen Führung zu schwarzen Verdächtigungen hinsichtlich der Absichten Moskaus Anlaß gab. Erst jetzt, im April 1941, entschloß sich Hitler laut den Aussagen von Halder und Jodl endgültig dazu, "Unternehmen Barbarossa" durchzuführen.
Wegen des Balkanfeldzuges hatte sich der ursprünglich geplante Aufmarsch für "Barbarossa" verzögert, erst ab dem 8. April setzte sich die dritte Staffel in Bewegung und kam der deutsche Aufmarsch in Schwung.
Bei OKH und OKW trafen jetzt laufend Meldungen über den sowjetischen Aufmarsch ein. Die Wehrmachtsführung war gezwungen, ihre Schätzungen über die Stärke der Roten Armee laufend nach oben zu korrigieren; hatte man im März 155 sowjetische Divisionen erkannt, so waren es Mitte Juni bereits 213. Besonders starke Truppenkonzentrationen wurden im Westen der Ukraine festgestellt, wodurch die deutschen Verbindungen zu den rumänischen Ölfeldern gefährdet waren.
Am 5. Juni genehmigte Hitler schließlich den Zeitplan für den Aufmarsch der eigentlichen Angriffsverbände und damit den endgültigen Angriffstermin 22. Juni. Zwischen dem 5. und dem 22. Juni, also in nur 17 Tagen, wurde die Masse der Angriffsverbände, 12 Panzer- und 12 motorisierte Divisionen in ihre Bereitstellungsräume an der sowjetischen Grenze transportiert.
Am 11. und 12. Juni traf Hitler in München mit dem rumänischen Staatsführer Marschall Antonescu zusammen und legte in einer ausführlichen Besprechung dar, warum der Feldzug gegen die Sowjetunion nunmehr unumgänglich geworden sei. Hitler führte zunächst aus, daß Rußland seit dem Sommer 1940 in das Lager der Feinde Deutschlands übergegangen sei. Das Protokoll fährt fort: "Die Folgen dieser Haltung seien sofort zu Tage getreten. Es habe sich dabei um Konzentrationen russischer Truppen, motorisierter und Panzerverbände an der deutschen Ostgrenze, größere Truppentransporte aus dem Inneren Rußlands nach dem Westen und Massierung einer starken Luftflotte an der deutschen Grenze gehandelt.
Weiterhin habe Sir Stafford Cripps ein geneigteres Ohr gefunden als bisher, und die russisch-englische Verbindung . . . sei ständig mehr vertieft worden. . . . es lag auf der Hand, daß die russische Politik entschlossen war, eine günstige Situation wahrzunehmen. Dabei würde sich der Angriff primär wahrscheinlich gar nicht gegen Deutschland richten. Rußland würde sich damit begnügen zu versuchen, Deutschland durch die Massierung einer Riesenarmee an seiner Ostgrenze einzuschüchtern, und im übrigen gegen Finnland und Rumänien aggressiv vorgehen. Der praktischen Auswirkung nach käme jedoch ein solches Vorgehen einem direkten Angriff auf Deutschland gleich . . .
Wenn nun in dem Kampf auf Leben und Tod mit England die Luftwaffe im Westen gebraucht würde, so sei sie durch die russische Armee im Osten gebunden. Deutschland könne wohl in der Luft an einer Front defensiv und an der anderen offensiv vorgehen, aber nicht eine Zweifrontenoffensive führen . . .
Im einzelnen faßte der Führer die Lage folgendermaßen zusammen:
Stalin würde Deutschland nie mehr verzeihen, daß es seinem Vordringen auf dem Balkan entgegen getreten sei.
Die Sowjetunion würde durch die Konzentration ihrer Machtmittel an der deutsch-russischen Grenze zu verhindern suchen, daß Deutschland durch die freie Verfügung über seine gesamten Machtmittel dem Krieg eine entscheidende Wendung gäbe. Rußland wolle Deutschland dadurch zwingen, Zeit zu verlieren, und hoffe, für England und sich selbst Zeit zu gewinnen.
Die Sowjetunion würde jede eventuelle Schwächung Deutschlands als eine einmalige historische Gelegenheit benutzen, um gegen den Staat vorzugehen, den es als Haupthindernis für seine weitere Expansion in Europa ansehe . . .
Die Sowjetunion versuche durch ihre Haltung den Widerstandswillen der Engländer zu stärken und Amerika die Hoffnung auf einen starken Festlandsverbündeten in Europa zu geben. Rußland hoffe vor allem, die Beendigung des Krieges im Jahre 1941 verhindern zu können. Andernfalls sei es selbst entschlossen, die Konsequenzen zu ziehen . . .
In den letzten Wochen habe sich die Situation insofern außerordentlich verschlechtert, als das Heranführen russischer Verbände an die deutsche Ostgrenze auch Deutschland zwinge, immer mehr Divisionen nach Osten zu verlegen . . . Es sei klar, daß auf diese Weise eine Ansammlung von Truppen auf beiden Seiten der Grenze erfolgt sei. Eine solche Lage sei reich an Spannungen und Konfliktmöglichkeiten. Jeden Augenblick könne eine Entladung erfolgen . . .
Anschließend erläuterte der Führer anhand von Karten den russischen Aufmarsch in Einzelabschnitten von der finnischen bis zur rumänischen Grenze . . . Einen besonderen Raum in den Erörterungen nahm auch die ebenfalls anhand von Karten vom Führer dargelegte Verteilung der russischen Luftstreitkräfte ein. Der Führer und Antonescu waren sich darin einig, daß die Russen sicher versuchen würden, die Petroleumgebiete und Constanza aus der Luft anzugreifen."
Antonescu beurteilte die strategische Situation im Osten in gleicher Weise wie Hitler, auch er hielt wegen des Aufmarsches der Roten Armee und der Bedrohung des rumänischen Ölgebiets durch die russischen Luftstreitkräfte einen Präventivkrieg für notwendig.
Seit dem September 1939 bereitete sich die Sowjetunion systematisch auf einen Krieg vor. Zwischen dem 1. September 1939 und dem 22. Juni 1941 wuchs die Rote Armee von 1,4 Millionen auf über 5 Millionen Mann an; die Rüstungsproduktion lief auf vollen Touren.
Nach der Niederlage Frankreichs legten der damalige Generalstabschef Schaposchnikow und der Volkskommissar für Verteidigung Timoschenko eine ausführliche Analyse über die möglichen militärischen Gegner sowie über die eigenen Kräfte vor. Am 1. August 1940 wurde Schaposchnikow als Generalstabschef von Armeegeneral Merezkow abgelöst. Ausgehend von der Kräfteanalyse Schaposchnikows arbeiteten Merezkow und Timoschenko einen ersten Operationsentwurf aus, den sie am 18. September 1940 fertigstellten und anschließend Stalin zur Begutachtung vorlegten. Der Entwurf trug den Titel "Überlegungen hinsichtlich der Grundlagen des strategischen Aufmarsches der Streitkräfte der Sowjetunion im Westen und im Osten für die Jahre 1940 und 1941."
Merezkow und Timoschenko schlugen alternativ zwei verschiedene Operationen vor: "Die Hauptkräfte der Roten Armee im Westen können - in Abhängigkeit von der jeweiligen Lage - entwickelt werden entweder: südlich von Brest-Litowsk, um mit einem machtvollen Schlag in den Frontabschnitten Lublin und Krakau und weiter Richtung Breslau schon in der ersten Phase des Krieges Deutschland von den Balkanstaaten abzuschneiden, es so seiner wichtigsten wirtschaftlichen Fundamente berauben und mit Entschiedenheit auf die Balkanstaaten in der Frage ihrer Teilnahme am Krieg einzuwirken; oder nördlich von Brest-Litowsk mit dem Auftrag, einen Schlag gegen die Hauptkräfte der deutschen Armee innerhalb der Grenzen von Ostpreußen zu führen und letzteres zu erobern."
Es sollten dazu drei Fronten (das sowjetische Gegenstück zur deutschen Heeresgruppe) gebildet werden, die Nordwestfront, die Westfront und die Südwestfront.
Sollte sich die politische Führung für die südliche Operation entscheiden, so sollte der Hauptschlag durch die Südwestfront aus der Westukraine geführt werden, für die ein Kräfteumfang von 6 Armeen mit insgesamt 78 Divisionen geplant war. Dabei sollte sie zusammen mit dem linken Flügel der Westfront (die aus Weißrußland vorstieß) zunächst die deutschen Kräfte im Raum Warschau - Lublin einschließen und vernichten, um anschließend durch Südpolen in den Raum Breslau vorzustoßen. Wörtlich hieß es: "Der Stoß unserer Kräfte Richtung Krakau, Breslau gewinnt, indem er Deutschland von den Balkanstaaten [und damit den Öl- und Gedreidezufuhren, Anmerkung Walter Post] abschneidet, außerordentliche politische Bedeutung."
Dagegen galt Ostpreußen nur als ein zweitrangiges strategisches Ziel. Dieser Operationsentwurf wurde am 14. Oktober 1940 von Stalin gebilligt. Am 18. Dezember hatte Hitler die "Weisung Barbarossa" unterzeichnet.
Dank der guten Arbeit der sowjetischen Nachrichtendienste war diese Tatsache nur elf Tage später dem Generalstab in Moskau bekannt, der auch in den folgenden Monaten über die deutschen Pläne gut informiert war.
Anfang Januar 1941 führte der sowjetische Generalstab eine Stabsübung auf Karten durch, bei der die Eroberung von Königsberg (die nördliche Operation) und Budapest (die südliche Operation) durchgespielt wurde. Bei diesen Kriegsspielen zeichnete sich Armeegeneral Schukow so aus, daß Stalin ihn zum neuen Generalstabschef ernannte.
Schukow und Timoschenko machten sich sofort an die Überarbeitung der vorhandenen Operationsentwürfe und schlugen Stalin am 11. März 1941 vor, die Variante der nördlichen Operation gegen Ostpreußen fallen zu lassen, da es hier bei der Durchführung des Kriegsspiels vom Januar Schwierigkeiten gegeben hatte.
Während die Verbände der Roten Armee in den westlichen Militärbezirken der Sowjetunion laufend verstärkt wurden, versicherte Moskau dem Deutschen Reich seine Vertragstreue und Friedensliebe.
Am 5. Mai 1941 hielt Stalin im Kreml vor den Absolventen der Militärakademien eine wichtige Rede. Stalin sprach von den enormen Fortschritten in der Modernisierung der Roten Armee, die jetzt 300 Divisionen umfasse; in der deutschen Armee habe sich dagegen Selbstzufriedenheit und Stagnation breitgemacht, sie sei keineswegs unbesiegbar. Im weiteren Verlauf des Empfangs brachte Stalin drei Trinksprüche aus; beim letzten Trinkspruch erklärte er: "Bis zu einer bestimmten Zeit haben wir die Linie der Verteidigung vertreten, bis zum Zeitpunkt, bis wir unsere Armee noch nicht umgerüstet haben . . . Jetzt aber, da wir unsere Armee umgestaltet haben, sie reichlich mit Technik für den modernen Kampf ausgestattet haben, jetzt, da wir stark geworden sind, jetzt muß man von der Verteidigung zum Angriff übergehen. Bei der Verwirklichung der Verteidigung unseres Landes sind wir verpflichtet, offensiv zu handeln. Wir müssen von der Verteidigung zur Militärpolitik des offensiven Handelns übergehen. Wir müssen unsere Erziehung, unsere Propaganda, Agitation, unsere Presse im offensiven Geist umbauen. Die Rote Armee ist eine moderne Armee, eine moderne Armee aber ist eine offensive Armee."
Der sowjetische Aufmarsch war bereits in vollem Gange; 800.000 Reservisten wurden einberufen, die Divisionen und Korps in den westlichen Grenzmilitärbezirken erhielten Befehl, näher an die Grenze aufzuschließen und Frontgefechtsstände einzurichten.
Schukow und Timoschenko, die sich über Umfang und Tempo des deutschen Aufmarschs zunehmend Sorgen machten, legten Mitte Mai Stalin einen neuen Operationsplan vor, der den Titel trug: "Erwägungen für den strategischen Aufmarschplan der Streitkräfte der Sowjetunion für den Fall eines Krieges mit Deutschland und seinen Verbündeten."
Die wichtigsten Thesen der "Erwägungen" wurden von Stalin gebilligt. Nach einer Analyse des deutschen Aufmarschs schreiben Schukow und Timoschenko: "Im gesamten kann Deutschland mit seinen Verbündeten gegen die Sowjetunion 240 Divisionen aufmarschieren lassen. Wenn man in Betracht zieht, daß Deutschland sein Heer mit eingerichteten rückwärtigen Diensten mobil gemacht hält, so kann es uns beim Aufmarsch zuvorkommen und einen Überraschungsschlag führen. Um dies zu verhindern und die deutsche Armee zu zerschlagen, erachte ich es für notwendig, dem deutschen Kommando unter keinen Umständen die Initiative zu überlassen, dem Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen und das deutsche Heer dann anzugreifen, wenn es sich im Aufmarschstadium befindet, noch keine Front aufbauen und das Gefecht der verbundenen Waffen noch nicht organisieren kann."
Die Stärke der Landstreitkräfte der Roten Armee gaben Schukow und Timoschenko mit 303 Divisionen an. Von diesen sollten 85 Prozent im Westen zum Einsatz kommen, darunter fast alle Panzer- und motorisierte Divisionen: 163 Schützendivisionen, 58 Panzerdivisionen, 30 motorisierte Divisionen und 7 Kavalleriedivisionen, insgesamt 258 Divisionen und 165 Fliegergeschwader.
Die zentrale Idee für die sowjetischen Operationen, ein Vorstoß aus der Westukraine durch Südpolen nach Schlesien, sowie ein gleichzeitiger Zangenangriff aus der Westukraine und aus Westweißrußland zur Einschließung starker deutscher Kräfte im Raum Lublin - Warschau geht auf den Entwurf vom 18. September 1940 zurück. Schukow und Timoschenko erweiterten diese Grundidee um einen anschließenden Vorstoß aus dem Raum Krakau - Kattowitz in nördlicher Richtung zur Ostsee, um möglichst viele deutsche Truppen in Polen und Ostpreußen abzuschneiden und zu vernichten. Dank der Vergrößerung der Roten Armee konnten wesentlich stärkere Kräfte eingeplant werden, als dies im Spätsommer 1940 möglich gewesen war; für den Hauptangriff der Südwestfront waren nicht weniger als 8 Armeen mit 122 Divisionen vorgesehen. Die Südwestfront sollte über fast die Hälfte aller Panzer- und motorisierte Divisionen verfügen, das waren etwa 7000 einsatzbereite Panzer, doppelt so viele, wie die deutsche Wehrmacht für "Unternehmen Barbarossa" insgesamt einsetzte.
Ein Gelingen der sowjetischen Offensive mußte Deutschland in eine prekäre Lage bringen, denn nach Abschneidung von den rumänischen Ölquellen und dem Verlust einer großen Zahl von Truppen und schweren Waffen in Polen und Ostpreußen würde es den Krieg nur noch unter größten Schwierigkeiten fortsetzen können.
Der deutsche Plan "Barbarossa" sah einen Angriff mit 3 Heeresgruppen vor, wobei insgesamt 4 Panzergruppen die eigentlichen Angriffsspitzen bildeten.
Die überstarke Heeresgruppe Mitte mit den Panzergruppen 2 und 3 hatte die Aufgabe, nach der Zerschlagung der feindlichen Kräfte in Weißrußland nach Norden einzuschwenken, um zusammen mit der Heeresgruppe Nord und der Panzergruppe 4 die sowjetischen Verbände im Baltikum zu vernichten und damit die Voraussetzung für die Einnahme von Leningrad zu schaffen.
Erst danach sollte die Heeresgruppe Mitte den Vorstoß auf das "wichtige Verkehrs- und Rüstungszentrum Moskau" weiterführen.
Die Heeresgruppe Süd mit der Panzergruppe 1 sollte in allgemeiner Richtung auf Kiew vorstoßen, um "die vollständige Vernichtung der in der Ukraine stehenden russischen Kräfte noch westlich des Dnjepr anzustreben."
Allgemeine Absicht der Operation war, die im westlichen Grenzgebiet der Sowjetunion konzentrierte Masse der Roten Armee durch tiefe Vorstöße von Panzerkeilen zu vernichten und den Abzug kampfkräftiger Teile in die Tiefe des Raumes zu verhindern. Endziel sollte die Linie Astrachan - Archangelsk sein, nach deren Erreichung das Industriegebiet im Ural durch die deutsche Luftwaffe zerstört werden sollte. Am 22. Juni 1941 standen auf deutscher Seite folgende Kräfte für "Unternehmen Barbarossa" bereit: 153 Divisionen, davon 19 Panzer- und 14 motorisierte Divisionen, sowie 37 Divisionen der Verbündeten, insgesamt also 190.
Das deutsche Heer verfügte über etwa 3600 Panzer sowie über 8100 Geschütze der Feldartillerie und der schweren Flak. Die Luftwaffe besaß 2500 Frontflugzeuge, denen noch 900 Maschinen der Verbündeten hinzugerechnet werden konnten.
Der Aufmarsch der Roten Armee gliederte sich in 2 strategische Staffeln. Am 22. Juni 1941 waren 237 Divisionen aufmarschiert oder im Aufmarsch begriffen.
Die Rote Armee besaß insgesamt 23.200 Panzer, von denen am 22. Juni 14.700 gefechtsbereit waren; außerdem verfügte das russische Heer über 79.100 Geschütze und Granatwerfer ab einem Kaliber von 76 mm.
Die sowjetischen Luftstreitkräfte besaßen etwa 20.000 Frontflugzeuge, von denen am 22. Juni 13.300 einsatzbereit waren. Etwa 3700 davon konnten als modern und den deutschen Typen in etwa ebenbürtig angesehen werden.
Die aufmarschierenden zwei strategischen Staffeln der Roten Armee waren dem deutschen Ostheer und seinen Verbündeten von der Zahl der Divisionen her nur im Verhältnis 1,3 : 1 überlegen, bei den schweren Waffen war das Übergewicht aber erheblich. Es betrug bei der Artillerie 8 : 1, bei den einsatzbereiten Panzern 4 : 1. Dabei verfügten die russischen Fliegerkräfte über mindestens ebenso viele moderne Frontflugzeuge wie die Verbände der deutschen Luftwaffe im Osten. Diese zahlenmäßige Überlegenheit wurde in der Praxis durch die schlechtere Ausbildung und Führung der sowjetischen Truppen und Fliegerkräfte wieder aufgehoben.
Während in Deutschland wie in der Sowjetunion die Kriegsvorbereitungen auf vollen Touren liefen, ereignete sich ein spektakulärer Zwischenfall: Am 10. Mai 1941 sprang der Stellvertreter Hitlers als Führer der NSDAP, Rudolf Heß, nach einem Alleinflug über Schottland mit dem Fallschirm ab. Heß trug den Vertretern der britischen Regierung ein Friedensangebot vor, das im wesentlichen folgendes enthielt: Für freie Hand in Europa erkenne das Deutsche Reich an, daß England ebenso freie Hand in seinem Empire habe; nur die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika müßten England zurückgegeben werden. Die Gerüchte über einen baldigen deutschen Angriff auf Rußland wurden von Heß dementiert. Das Angebot des Stellvertreters des Führers ging somit inhaltlich nicht über Hitlers Friedensappell an England in seiner Reichstagsrede vom 19. Juli 1940 hinaus; so wenn man nach den Protokollen der Gespräche der Ex-Diplomaten Sir Ivone Kirkpatrick und Sir John Simon, die die englische Regierung vertraten, mit Rudolf Heß geht.
Der ungeheure Aufwand, der jahrzehntelang getrieben wurde, um Heß von der Außenwelt zu isolieren, und die Tatsache, daß die wichtigsten englischen Akten zum Fall Heß bis zum Jahr 2017 gesperrt sind, legen jedoch den Verdacht nahe, daß der Stellvertreter des Führers sehr viel weitergehende und konkretere Angebote gemacht hat, und daß seine Friedensmission durchaus mit dem Einverständnis Hitlers erfolgte. Tatsächlich fand sich in englischen Archiven ein Dokument, demzufolge Heß in einem Gespräch mit Staatssekretär Alexander Cadogan, der als Stellvertreter Anthony Edens praktisch die englische Außenpolitik leitete, folgende Vorschläge gemacht haben soll (Es ist wie vieles in der Affäre Heß allerdings nicht ganz sicher, ob dieses Dokument wirklich die Vorschläge des Führerstellvertreters wiedergibt):
Deutschland und England schließen einen weltpolitischen Kompromiß auf der Basis des status quo - also ohne einen deutschen Eroberungsfeldzug gegen die Sowjetunion.
Deutschland läßt seine kolonialen Ansprüche fallen und erkennt dafür Kontinentaleuropa als deutsche Interessensphäre an.
Die gegenwärtigen militärischen Kräfteverhältnisse zwischen Deutschland und England im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte werden aufrechterhalten - also keine Verstärkung durch die USA.
Deutschland räumt Frankreich nach einer totalen Abrüstung der französischen Armee und Flotte.
Deutschland errichtet Satellitenstaaten in Polen, Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Serbien. Es zieht sich aber aus Norwegen, Rumänien, Bulgarien und Griechenland (außer Kreta) zwei Jahre nach Friedensschluß zurück. Damit würde Deutschland den Druck auf die Stellung Englands im östlichen Mittelmeer und im Nahen Osten aufheben.
Deutschland erkennt Abbessinien und das Rote Meer als englische Einflußsphäre an.
Eine gewisse Verwirrung herrschte bei dem Gesprächspartner von Heß in Bezug darauf, ob Italien den Friedensvorschlägen des Stellvertreters des Führers zugestimmt habe oder nicht.
Heß gab zu, daß seine angebliche "Unzurechnungsfähigkeit" mit Hitler abgesprochen, er also mit Wissen des Führers geflogen war.
Unter der Vorraussetzung, daß dies tatsächlich die Vorschläge von Heß sind, fällt auf, daß hier von einem Kompromiß auf der Grundlage des status quo, also ohne deutschem "Lebensraum" in der Sowjetunion die Rede ist. Auch in den Gesprächen mit Kirkpatrick und Simon sprach Heß immer nur von einem neuen Übereinkommen zwischen Hitler und Stalin, nicht aber von einem Krieg. Mit anderen Worten, Heß ging davon aus, daß im Falle eines deutsch-englischen Kompromißfriedens "Unternehmen Barbarossa" nicht stattfinden würde.
Damit erhebt sich die Frage, wie realistisch die Vorschläge von Heß und wie groß die Erfolgsaussichten seiner spektakulären Mission überhaupt waren.
Die britische Regierung unter Churchill hatte sich spätestens im März 1941, also zwei Monate vor dem Heßflug, auf einen totalen Krieg gegen Deutschland bis zum völligen Sieg festgelegt. Sie hofften, durch einen baldigen Kriegseintritt der USA und wenn möglich auch der Sowjetunion den Krieg über kurz oder lang zu gewinnen. Heß' Unternehmung hatte damit von vorne herein nur sehr geringe Erfolgsaussichten. Heß und Hitler hatten bereits seit dem Sommer 1940 über den deutschen Theoretiker der Geopolitik, Prof. Karl Haushofer, und seinen Sohn, Albrecht Haushofer, über die Schweiz und Portugal mit dem schottischen Herzog von Hamilton in Kontakt gestanden und dabei versucht herauszufinden, inwieweit konservative britische Politiker, die Churchills bedingungslosen Kriegskurs ablehnten, zu einer Verständigung bereit seien. Da im Herbst 1940 bereits absehbar war, daß England bei einer Fortsetzung des Krieges der finanzielle Bankrott und die völlige Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten drohten, ging man in Berlin davon aus, daß es eine heimliche Opposition gegen Churchill geben müsse. Hitler und Heß setzten dabei insbesondere auf den Zeitungsverleger Lord Beaverbrook, der damals britischer Minister für Flugzeugproduktion war. Inwieweit es eine solche Opposition tatsächlich gab, ist unklar, auf jeden Fall erfuhr der britische Geheimdienst sehr bald von den inoffiziellen Kontakten von Heß und den Haushofers zum Herzog von Hamilton und begann, diese für seine eigenen Zwecke auszunutzen. Nachdem Hitler angedeutet hatte, er würde seinen Stellvertreter nach England schicken, war es das Ziel der britischen Geheimdienstführung, Heß zu einem Alleinflug nach England zu bewegen. Offen ist, welche Absicht der Secret Intelligence Service damit verfolgte. Entweder wollte man Heß nach England locken, um dann als Instrument der psychologischen Kriegsführung und der Desinformation einzusetzen, insbesondere um durch die Vorspiegelung ernsthafter Verhandlungen mit der deutschen Reichsregierung Druck auf die amerikanische und die sowjetische Führung auszuüben. Oder es gab tatsächlich eine Opposition gegen Churchills Kriegspolitik, und der Flug von Heß nach England sollte das Signal zum Sturz des Premierministers sein.
Es ist durchaus möglich, daß zwei verschiedene Gruppierungen unabhängig voneinander die beiden genannten Ziele verfolgten, und es ist ebenso möglich, daß einige britische Geheimdienstleute dabei ein Doppelspiel trieben.
Auf jeden Fall flog Heß am 10. Mai 1941 nach Schottland, um sich mit dem Herzog von Hamilton zu treffen, der dort die britische Luftverteidigung kommandierte. Churchill hatte auf bisher unbekannten Wegen rechtzeitig von dem Erscheinen von Heß erfahren und seine Gegenmaßnahmen getroffen, so daß aus dem geplanten Umsturz, wenn er je ernsthaft geplant gewesen sein sollte, nichts wurde. Damit war die Mission von Heß gescheitert.
Nach einer kurzen Phase der Unsicherheit, wie die Affäre Heß propagandistisch am besten auszunutzen sei, startete die britische Regierung eine Desinformationskampagne.
Die militärische Lage war für Großbritannien im Frühjahr 1941 ausgesprochen schlecht, die englische Rüstungsindustrie war der deutschen weit unterlegen.
London hatte bisher wenig Erfolg damit gehabt, Moskau zu einem Bündniswechsel auf die Seite Englands und Washington zum offenen Kriegseintritt zu bewegen. Der Flug von Heß wurde nun dazu benutzt, wie von einem Teil der Geheimdienstführung wahrscheinlich ursprünglich vorgesehen, bei der sowjetischen wie der amerikanischen Führung den Eindruck zu erwecken, daß gewisse Kreise in der englischen Regierung bereit seien, auf das deutsche Friedensangebot einzugehen. Dieses Manöver um angeblich ernsthafte Gespräche mit Heß sollte die amerikanische Regierung zu mehr materieller Unterstützung und zum baldigen Kriegseintritt veranlassen. Die Sowjets sollten durch die Drohung, den Kriegszustand zwischen England und Deutschland zu beenden, davon abgehalten werden, ein neues, noch umfangreicheres Abkommen als das vom 28. September 1939 mit Berlin abzuschließen.
Mitte April 1941 hatte London aus diplomatischen Quellen Berichte über einen für Anfang Juni geplanten deutschen Angriff auf die Sowjetunion sowie über deutsche Kriegsvorbereitungen im Osten erhalten. Die britische Regierung hielt dies aber für Bestandteile eines Nervenkrieges, da ein Feldzug gegen die Sowjetunion die deutschen militärischen Kräfte überspannen und die deutsche Wirtschaft in erhebliche Schwierigkeiten bringen würde, da sie auf sowjetische Rohstofflieferungen angewiesen war, die im Kriegsfall natürlich fortfielen.
Ende April/Anfang Mai konnte "Ultra", die englische geheime Funkaufklärung, durch Entschlüsselung des Funkverkehrs der deutschen Luftwaffe, der mittels der Chiffriermaschine "Enigma" betrieben wurde, fragmentarisch deutsche Truppenbewegungen nach Osten feststellen. Mitte Mai waren außergewöhnliche deutsche militärische Vorbereitungen gegen Rußland nicht mehr zu übersehen. Die Nachrichten aus diplomatischen Quellen waren aber widersprüchlich, ein Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurde in London ebenso für möglich gehalten wie der Abschluß eines neuen Abkommens.
Über die sowjetischen Kriegsvorbereitungen wußten die britischen Nachrichtendienste so gut wie nichts; sie litten nicht nur unter der rigorosen sowjetischen Geheimhaltung, die auch den deutschen Nachrichtendiensten schwer zu schaffen machte, sie hatten auch seit Mitte der dreißiger Jahre ihre Anstrengungen fast ausschließlich auf die Achsenmächte konzentriert. Im Ergebnis war der Wissensstand Londons über das militärische Potential sowie die politischen Absichten Sowjetrußlands nur sehr gering.
Die britische Regierung spielte Moskau nun ernsthafte Verhandlungen mit dem Stellvertreter des Führers Rudolf Heß vor und übermittelte den Sowjets gleichzeitig Informationen des britischen Nachrichtendienstes über den deutschen Aufmarsch im Osten, über den Moskau allerdings aus eigenen Quellen gut informiert war. Durch das Zusammenwirken von Drohungen und Kooperationsangeboten sollte die sowjetische Führung zu einer Annäherung an England bewegt werden.
Moskau reagierte auf dieses Spiel aus guten Gründen nervös und äußerst mißtrauisch.
Molotow hatte durch seine provozierenden Forderungen im November 1940 in Berlin die deutsche Aufmerksamkeit nach Osten gelenkt, um "Unternehmen Seelöwe", die deutsche Landung in England, zu verhindern, und die weitere Kriegsteilnahme Englands zu sichern. Ein deutsch-englischer Kompromißfrieden hätte die Sowjetführung, nachdem sie zugunsten Londons die Konfrontation mit Berlin gesucht hatte, in die Lage gebracht, allein gegen das Deutsche Reich zu stehen, ja möglicherweise die gesamte kapitalistische Welt gegen sich zu haben - der alte Alptraum Moskaus. Inwieweit das britische Spiel mit Heß die Entscheidungen Stalins im Frühjahr 1941 tatsächlich beeinflußt hat, ist mangels Unterlagen nicht festzustellen; die russische Geschichtsschreibung schweigt sich zu diesem Thema bislang aus.
Zuletzt stellt sich die Frage, ob, wenn es Heß tatsächlich gelungen wäre, einen Kompromißfrieden oder einen modus vivendi zwischen Deutschland und England auszuhandeln, es dann noch zum Krieg zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion gekommen wäre. Diese Frage läßt sich nur spekulativ beantworten, da der Moskauer Entscheidungsprozeß trotz der Aktenveröffentlichungen der letzten Jahre nur bruchstückhaft bekannt ist, und da im Falle Heß die wichtigsten englischen Akten nach wie vor gesperrt sind.
Was Stalin und die sowjetische Führung angeht, so hatten diese seit den Tagen der Oktoberrevolution immer wieder die Befürchtung geäußert, die kapitalistischen Mächte könnten sich, ähnlich wie während der alliierten Intervention im russischen Bürgerkrieg 1918 - 1920, zusammenschließen um dem ersten sozialistischen Staat der Welt ein gewaltsames Ende zu bereiten. Nach Lenin und Stalin waren die Uneinigkeit und die Schwäche der kapitalistischen Welt die unverzichtbare Voraussetzung für den siegreichen Vormarsch des Sozialismus, für die Sowjetisierung Europas mit Hilfe der Roten Armee. Solange Großbritannien und die Vereinigten Staaten dem Deutschen Reich feindlich gegenüberstanden und sogar ein Bündnis mit der Sowjetunion anstrebten, war die Korrelation der Kräfte für eine gewaltsame Ausbreitung des Sozialismus in Europa günstig. Fanden Deutschland und England jedoch zu einem modus vivendi, so war die Korrelation der Kräfte nicht nur ungünstig, es drohte dann in den Augen Stalins ein gegen die Sowjetunion gerichtetes Bündnis der deutschen und britischen Imperialisten, dem sich möglicherweise auch noch Amerikaner und Japaner anschlossen. Ein Angriff der Roten Armee auf Mitteleuropa würde unter diesen Umständen nicht nur auf die volle, ungeteilte Kampfkraft der deutschen Wehrmacht treffen, er würde wahrscheinlich die Herbeiführung des von Moskau gefürchteten Bündnisses auch noch beschleunigen.
Zwar ging die Moskauer Führung nach ihren Äußerungen von der Unvermeidlichkeit eines Krieges mit Deutschland aus, es ist aber sehr fraglich, ob Stalin diesen Krieg unter den geschilderten Umständen eröffnet hätte.
Was nun Hitler angeht, so ist zunächst festzustellen, daß die These, er hätte einen Stufenplan mit dem Ziel eines "rassenideologischen Vernichtungskrieges" und der Gewinnung von "Lebensraum im Osten" verfolgt, auf schwachen Beinen steht. Eine Überprüfung des deutschen Entscheidungsprozesses zeigt, daß Hitler gegenüber der Sowjetunion in den Jahren 1939-1941 zwischen Kooperation und Konflikt schwankte, daß die Planung für einen Feldzug gegen die Sowjetunion überwiegend real- und sicherheitspolitische Motive hatte, und daß die endgültige Entscheidung für "Unternehmen Barbarossa" erst ziemlich spät, im April 1941, fiel.
Hitler sprach wiederholt vom härtesten Entschluß seines Lebens, was darauf schließen läßt, daß er keineswegs bedingungslos zum Krieg gegen die Sowjetunion entschlossen war. Im Juni 1941 hatte Hitler gegenüber Marschall Antonescu dargelegt, daß der Aufmarsch der Roten Armee eine schwere Bedrohung für das Deutsche Reich darstellte. Stalin habe nun die Möglichkeit, Deutschland jederzeit anzugreifen, woran er, Hitler, allerdings weniger glaube; Stalin habe aber auch die Möglichkeit, seine militärische Stärke für Erpressungsmanöver oder einen Krieg gegen Finnland und Rumänien auszunutzen und damit die deutsche Rohstoffversorgung auf das schwerste zu bedrohen. Diese Gefahr bestehe insbesondere dann, wenn die deutsche Luftwaffe voll im Kampf gegen England gebunden sei. Außerdem würde England durch Stalins Haltung und den Aufmarsch der Roten Armee ermutigt, den Krieg gegen Deutschland fortzusetzen.
Kam es dagegen in elfter Stunde zu einer Verständigung zwischen London und Berlin, so entfielen, wenn man Hitlers Lageanalyse folgt, gewichtige Gründe für einen Feldzug gegen die Sowjetunion. Im Falle einer deutsch-britischen Verständigung verlor die Sowjetunion automatisch ihre Funktion als Festlanddegen Englands; und da nun die gesamte deutsche Luftwaffe im Osten konzentriert werden konnte, wären Stalins Erpressungsmöglichkeiten zumindest stark gemindert gewesen.
Außerdem hätte Deutschland nach Aufhebung der englischen Blockade Öl, Nickel und Getreide wieder auf dem Weltmarkt einkaufen können, was die Abhängigkeit von den durch Moskau bedrohten finnischen Nickelgruben und rumänischen Ölfeldern erheblich verringert hätte.
Zusammengefaßt gibt es also ernstzunehmende Argumente für die These, daß es im Falle einer deutsch-britischen Verständigung zu keinem Krieg zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion gekommen wäre. Wahrscheinlich wären die beiden Großmächte, ähnlich wie die USA und die UdSSR im Kalten Krieg, in einer Pattsituation verharrt.
Der Englandflug von Rudolf Heß hätte, wenn er von Erfolg gekrönt gewesen wäre, somit die Ausweitung des europäischen Krieges zum Zweiten Weltkrieg verhindern können. Aber letztlich sind dies Spekulationen, und mit Spekulationen sollte der Berufshistoriker möglichst sparsam umgehen.
Der Inhalt ist wirklich sehr interessant und der öffentlichen Meinung fast gänzlich unbekannt!
Sowas sollte man auf der ersten Seite einer jeden Tageszeitung stehen!
Gruß,
Boersiator
Wilhemine Encke wird als Tochter des Dessauer Trompeters Johann Elias Enke geboren. Der Vater ist seit 1763 Mitglied der Berliner Hofkapelle und betreibt außerdem noch eine Gastwirtschaft in der Spandauer Straße. Die Familie lebt in Potsdam unweit des Stadtschlosses. Der Kronprinz, der ein Verhältnis mit ihrer Schwester Dorchen hat, lernt Wilhemine im Jahr 1766 bereits als Dreizehnjährige kennen,mit 17 bekommt sie ihr erstes Kind von ihm. Am Ende wird sie fünf Kinder vom König haben. Johann Gottfried Schadow urteilt über das Treiben bei Hofe:
„Ganz Potsdam war wie ein Bordell, alle Familien dort suchten nur mit dem Könige, mit dem Hof zu tun zu haben. Frauen und Töchter bot man um die Wette an, die größten Adlichen waren am eilfertigsten.“
1765 heiratet Friedrich Wilhelm die durch ihre Schönheit berühmte Prinzessin Elisabeth von Braunschweig-Bevern Am 18.4.1769 wird die Ehe geschieden und die Prinzessin nach Küstrin verbannt. Am 14.Juli heiratet der Prinz von Preußen Friederike Luise, Prinzessin von Hessen Darmstadt, die er nach kurzer Zeit als Gemahlin ignoriert. Friedrich Wilhelm bringt Wilhemine, um sie heimlich besuchen zu können, in Falkenhagen, bei Nauen unter. Sie erhält Garderobe, Kutsche und 200 Dukaten monatlich. Er schickt sie 1766 für ein Jahr nach Paris, wo sie eine höfische Erziehung erhält. 1770 bekommt Wilhemine Enke ihr erstes Kind von Friedrich Wilhelm. Um den Schein zu wahren, sorgt König Friedrich II., der Onkel Friedrich Wilhelms, dafür dass Wilhemine mit dem Kammerdiener Johann Friedrich Rietz verheiratet wird. Auch aus dieser Ehe gehen zwei Kinder hervor. Wilhemine erhält von Friedrich
II. eine jährliche Zuwendung von 30.000 Talern und ein Haus in Charlottenburg. Am 4.1.1779 bringt Wilhemine einen Sohn des Kronprinzen, Friedrich Wilhelm Alexander Moritz, zur WeltDer Knabe und eine weitere Schwester werden von Friedrich II. in den Grafenstand erhoben. Als Alexander 1787 stirbt ist Friedrich Wilhelm II. tief verzweifelt. Im gleichen Jahr erbt Wilhemine das Palais Unter den Linden in dem sie fortan residiert.
Schon 1781 beendet Friedrich Wilhelm auf Betreiben des Rosenkreuzerordens, dem er angehört, den intimen Umgang mit Wilhemine, bleibt aber aufs Engste mit ihr befreundet.1786 wird Friedrich Wilhelm II. König. Wilhemine genießt nach wie vor die Zuneigung des Königs, bezieht ein Monatsgehalt aus der Schatulle des Königs und besitzt inzwischen ein großes Vermögen. Die Ehe mit Rietz wird geschieden. Da dem „dicken Lüderjahn“, wie ihn die Berliner nennen, zwei Frauen nicht genügen, lässt er sich mit Erlaubnis der Geistlichkeit noch mit zwei weiteren Damen zur „ linken Hand trauen. 1786 mit Julie von Voß, der späteren Gräfin Ingenheim und nach deren Tod im Jahr 1790 mit Sophie Juliane Friederike Gräfin von Dönhoff Mit beiden hat er Kinder, die Gräfinnen und Grafen von Preußen und von Brandenburg werden. Nachdem die Gräfin Dönhoff beim König in Ungnade fällt, hat die „schöne Wilhemine“ ihren „Willem“ wieder ganz für sich.1796 erhebt Friedrich Wilhelm II. Wilhemine in den Adelsstand, sie wird Gräfin Lichtenau Am 16.11.1797 stirbt Friedrich Wilhelm II., den Wilhemine bis zuletzt gepflegt. Sein Nachfolger Friedrich Wilhelm III. lässt die Gräfin verhaften und verbannt sie nach Glogau. Ihr wird der Prozess wegen Bereicherung, Betruges, Landesverrats etc. gemacht. 1800 wird das Vermögen der Gräfin eingezogen. Sie erhält eine Pension. Am 3. Mai 1802 heiratet sie in Breslau den 26 Jahre jüngeren Theaterdichter Franz Ignaz Holbein von Holbeinsberg, der sich als Schauspieler Fontano nennt. Die Ehe wird nach vier Jahren wieder geschieden. 1809 darf die Gräfin Lichtenau wieder nach Berlin zurückkehren, sie wird rehabilitiert und erhält, hauptsächlich durch Intervention Napoleons einen Teil ihres Vermögens zurück. 1811 besucht sie Napoleon in Paris, um sich für dessen Unterstützung zu bedanken. Im gleichen Jahr revidiert Friedrich Wilhelm III. das Urteil. Am 9.6. 1820 stirbt Wilhemine Gräfin von Lichtenau in Berlin.
8. August 1781 Der "Dicke Willem" glaubt an Geister
.Beim Aufnahme-Ritual der Rosenkreuzler am 8.August 1781 muss der zukünftige König an einem Altar aus Menschengebein Menschenblut trinken und - während Sphärenklänge um ihn rauschen - ein Gericht aus magischen Wurzeln zu sich nehmen. Aus dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm wird Bruder Ormesus Ritter des Ordens der „ Rosenkreuzer "Die ihn in die Geheimnisse des Ordens einweihen, sind Bruder Helioconus, mit bürgerlichem Namen Wöllner und Bruder Farferus, alias von Bischoffwerder. Die beiden Minister in spe versprechen dem Kronprinzen Einblicke in die wahren Absichten seines Hofstaates und seiner Feinde und Siege in allen Schlachten. Die wahren Absichten dieser Ordensbrüder allerdings sind, sich jegliche Vorteile im Staate zu verschaffen, Hans Rudolf von Bischoffwerder als Minister für Außenpolitik weniger, Johann Christoph Wöllner ein Theologe, als Kultus- und Justizminister um so mehr.
So inszenieren die beiden Rosenkreuzer im Gartenpalais Belvedere im Park des Charlottenburger Schloss aber auch anderswo mit Hilfe von Hohlspiegeln und mit Unterstützung des Bauchredners Stein und des Geheimsekretärs Mayr gespenstische Auftritte. Dem König erscheinen der römische Kaiser Mark Aurel, der Philosoph Leibniz der Große Kurfürst und weitere Geister. Der Zweck des Mummenschanzes im Belvedere ist, sich des Einflusses der allmächtigen Wilhemine, alias Gräfin Lichtenau der Mätresse des Königs, zu entledigen. Die Geister sollen den abergläubischen Monarchen davon überzeugen, dass er sein Verhältnis zu Wilhemine lösen müsse. Ein Zeitgenosse berichtet: „Die Zauberei bestand darin, dass während der Beschwörungsformel und unter den nervenangreifenden Tönen einer Glasharmonika der gefordete Geist in dem Nebenzimmer leibhaftig sich so vor einen Hohlspiegel stellte, dass sein Bild, von dem gegenüberstehenden Spiegel aufgefangen, auf dem Milchflor in dem dunklen Zimmer sichtbar wurde, in welchem der geängstigte Prinz ganz allein saß. Es war dem Prinzen gestattet worden, Fragen an die Abgeschiedenen zu richten. Es gelang ihm nicht, auch nur einen Laut über die bebenden Lippen zu bringen. Dagegen vernahm er seinerseits von den heraufbeschworenen Geistern strenge Worte, drohende Strafreden und die Ermahnung auf den Pfad der Tugend zuzukehren. Er rief mit banger Stimme nach seinen Freunden; er bat inständig, den Zauber zu lösen und ihn von seiner Todesangst zu befreien. Nach einigem Zögern trat Bischoffswerder in das Kabinett und führte den zu Tode Erschöpften nach seinem Wagen. Er verlangte, zur Lichtenau zurückgebracht zu werden, ein Wunsch, dem nicht nachgegeben wurde. So kehrte er noch während derselben Nacht nach Potsdam zurück.“
Den Belvedere-Pavillon hat Friedrich Wilhelm nie wieder betreten. Von Wilhemines Bett löst er sich, nicht aber von ihrem Tisch. Denn auch die pfiffige Wilhemine hat einen Einfall. Drei Tage nach dem Tod ihres gemeinsamen Sohnes Alexander am 1.August 1787 hört der König im Charlottenburger Park dessen Stimme. Für Wilhemine ist es die Erweckungsstunde. Später gibt sie zu Protokoll, sie sah sich
„... um dem General von Bischoffwerder das Gegengewicht zu halten veranlasst, obigen Zufall dazu anzuwenden, des Königs Meinung gegen die schädlichen Einflüsse von anderer Seite sicherzustellen.“
Nun kommen auch von Alexander -dem toten Sohn-Ratschläge, unter anderem die dringende Empfehlung, Wilhemine niemals zu verlassen.
Welchen Einfluss König Friedrich Wilhelm II auf die Gestaltung des Bauwerks des Brandenburger Tores nimmt, ist nicht belegt, wohl aber der von seiner Favoritin Wilhemine Encke Sie soll im Geheimen die Bauoberaufsicht gehabt haben. Baumeister und heimliche Bauherrin eint die Verehrung der griechischen Antike. So geht die Rede, dass die Baupläne nicht dem König, sondern der Gräfin Lichtenau in ihrem niederländischen Palais unweit des geplanten Baus vorgelegt wurden. Von ihren Gemächern aus kann sie nach der Vollendung den Bau sehen, den der Bildhauer Gottfried Schadow mit einer aus Kupfer getriebenen „Quadriga“ krönt. Es heißt, über das nackte Hinterteil der Siegesgöttin, die den Wagen lenkt, habe es Diskussionen gegeben. Die „schöne Wilhemine“ habe dem Bildhauer zugezwinkert: „Nee, Jottfried. So jeht datt nicht!“ So hält sich lange das Gerücht, dass der Bildhauer die Mätresse des Königs zum Modell genommen habe. Schadow allerdings behauptet, Siegesgöttin und Hinterteil nach der Tochter eines Schmiedes vom Hausvogteiplatz modelliert zu haben.
ich weiss,das ist schon einige Jahrhunderte her!aber sie war auch eine interessante Frau