Analyse der SPD
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Eröffnet am: | 05.06.08 09:24 | von: tommm | Anzahl Beiträge: | 8 |
Neuester Beitrag: | 05.06.08 10:03 | von: Polarschwein | Leser gesamt: | 1.991 |
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04. Juni 2008 von Spiegelfechter - Drucken
Eine Volkspartei wie die SPD hat viele Gesichter – eines davon ist Martin*. Martin ist seit langer Zeit ein sehr guter Freund von mir und Lokalpolitiker der SPD. Martin und ich haben die Sozialdemokratie mit der Muttermilch aufgesogen. Wir beide sind Anfang der 70er Jahre in der beschaulichen BRD geboren und stammen beide aus klassisch proletarischen Verhältnissen. Der Proletarier unserer Jugendjahre war das Erfolgsmodell sozialdemokratischer Politik – er verdiente genug, um sich eine bescheidene Existenz aufzubauen und um seinen Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen. Für uns war es selbstverständlich, dass wir die Möglichkeit hatten, unser Abitur zu machen und eine Hochschule zu besuchen, was für Kinder normaler Facharbeiter noch vor wenigen Jahrzehnten ein Ding der Unmöglichkeit war. Auch wenn wir keiner „echten“ Klasse angehörten – außer dieser verwaschenen Mittelklasse, zu der irgendwie jeder gehörte – sind wir dennoch in einer abstrakten Form des Klassenbewusstseins erzogen worden: Chancengleichheit, Solidarität und Freiheit waren für uns Grundwerte, die sakrosankt waren.
In unserer Schulzeit war die Welt noch einfach – die Guten waren „rot“ und die Bösen waren „schwarz“. Wer aus dem Milieu der „Normalverdiener“ stammte, war „rot“ und wessen Eltern Akademiker oder Altarrivierte waren, der war „schwarz“ und die „Schwarzen“ wollten ihre Pfründe verteidigen, während wir sie sozialisieren wollten. In unserer eigenen Sozialisation änderte sich dies auch nur marginal – ich entwickelte vor allem aus jugendlichem Protest gegen Lehrer, die man als Alt-68er bezeichnen könnte, eine ausgeprägt liberale Linie, während Martin sich am gewerkschaftlich orientierten orthodoxen linken Flügel der Sozialdemokratie positionierte und dies ist mit leichten Korrekturen bis heute so geblieben. Während ich an der Universität eine gesunde Distanz zu „linken“ Basisgruppen entwickelte und parteipolitisch desorientiert zwischen „rot“, „gelb“ und „grün“ lavierte, trat Martin schon sehr früh in die SPD ein. Das hatte bei ihm Familientradition – Vater, Großvater und Urgroßvater waren schon SPD- und Gewerkschaftsmitglieder und an der sozialdemokratisch geprägten BRD war zwar einiges zu kritisieren, aber während der langen bleiernen Kohl-Ära war man ja auch Opposition.
Mit der rot-grünen Wende platzte Martins Traum von „seiner“ SPD. Am Anfang bestand noch Hoffnung, schließlich war dem neuen Kanzler Schröder ja noch der Parteivorsitzende Lafontaine als Korrektiv an die Seite gestellt worden. Sicher kannte man das „Schröder-Blair“ Papier und hegte bereits Zweifel daran, dass Rot-Grün sozialdemokratische Politik machen würde, aber irgendwie war das immer noch besser als eine Fortführung der Ära Kohl. Das Schicksalsjahr 1999 ging allerdings als Sündenfall in die Geschichte der SPD ein. Oskar Lafontaine warf die Brocken hin und machte sich aus dem Staub und überließ die Partei den opportunistischen Kräften um Schröder, die Politik für die „Neue Mitte“ machen wollten und sich dabei frei aus dem Giftschrank des „Neoliberalismus“ bedienten. 1999 war auch das Jahr, in dem die SPD einen Angriffskrieg um das Kosovo beschloss, den sie mit einer Lügen- und Propagandaschlacht einläutete. Während für mich die SPD in diesem Jahr starb, ging Martin in die innere Emigration.
Der „Höllensturz“ des gefallenen Engels der Sozialdemokratie und die darauf folgende „Reformpolitik“ der paralysierten SPD setzten ihm schwer zu. Er musste mit anschauen, wie die karriereorientierten Honoratioren der Partei selbst altgefahrene Sozialdemokraten in seinem Ortsverband „auf Linie brachten“, um ab 2003 unter dem Namen „Agenda 2010“ eine Politik durchzusetzen, die mit klassisch sozialdemokratischer Politik gar nichts mehr zu tun hatte. 2003 sind rund 100.000 SPD-Mitglieder aus Protest ausgetreten, nicht so Martin – er vertritt bis heute die Position, man dürfe diese Partei nicht den „Neoliberalen“ überlassen und könne die Partei von innen eher reformieren, als von außen.
Dass sein langer Leidenskampf mit dieser Partei erst begonnen hatte, wusste er damals freilich noch nicht. In unseren häufig stattfindenden Diskussionen wollte er die Politik der Parteispitze nicht mehr verteidigen, obgleich dies auch in den Jahren zuvor eher einem Rollenspiel glich. Resignierend stellt er damals fest, dass man gegen die Medien heute keine Politik mehr betreiben könne. Ich entgegnete ihm damals, dass könne man nicht so sagen, da man dies nie versucht habe. Er klagte zwar über die Politik „seiner“ Partei, war aber im Inneren immer noch überzeugt, dass alles noch viel schlimmer wäre, wenn anstatt Rot-Grün, Schwarz-Gelb an der Regierung wäre. Damals konterte ich noch leidenschaftlich, heute empfinde ich schon fast Mitleid mit dieser Partei und allen, die sie – teils sicher aus lauteren Motiven – verteidigen.
Als die SPD 2005 in die Große Koalition eintrat und Martins ehemaliges politisches Vorbild eine neue Partei gründete, verwandelte sich seine Paralyse in eine wütende Agonie. Lafontaine war für ihn fortan nicht nur ein gefallener Engel, sondern ein Verräter. Er selbst hatte viele wertvolle Stunden seines Lebens damit verbracht, die alte sozialdemokratische Partei, in der schon seine Vorfahren für eine „bessere“ Welt kämpften, von innen heraus wieder auf einen Kurs zu bringen, der das Wort „Sozialdemokratie“ verdient hätte und der Mann, der diesen Kurs in den 90ern symbolisierte, ließ die Partei nicht nur fallen und überließ sie damit charakterlosen Opportunisten, sondern er gründete auch noch eine Partei, die mit klassisch sozialdemokratischen Positionen gegen die SPD Wahlkampf machte.
Martin ist in den meisten Punkten auf der politischen Linie der LINKEn, aber er bleibt dennoch tapfer auf seinem Schiff und versucht das immer stärker einbrechende Wasser aus der Bilge zu pumpen. Halb im Spaß sagte er mal zu mir: “Bald gründe ich den Arbeitskreis Sozialdemokraten in der SPD.” Momentan steht seine Partei in den Umfragen bei 20% und droht endgültig als Volkspartei zu kentern. Während tausende Martins versuchen die Bilge trocken zu halten, steuert die Führung des alten Dampfers SPD mit Volldampf aufs Riff und ist zu lethargisch das Steuer zu korrigieren.
Würde nicht ausgerechnet der gefallene Engel der Sozialdemokratie die einzig sozialdemokratische Alternative zur SPD lautstark anführen – viele der aufrechten aber desillusionierten SPD-Mitglieder hätten längst unter neuer Flagge angeheuert. Für sie wäre der Wechsel zum Verräter aber ein Eingeständnis in ihrem eigenen Kampf verloren zu haben und wenn man Martin fragt, wann die SPD wieder zu einer sozialdemokratischen Politik findet und sich endlich zu einem Linksbündnis bekennt, fängt er an zu Lächeln: „2009? Vielleicht auch erst 2013? Die Partei ist richtungs- und planlos, es ist ein Graus“. Wenn er dies sagt, wirkt er verbittert und ratlos. Er steht auf verlorenen Posten, aber er ist nicht alleine. Er ist die SPD.
*Name geändert
Jens Berger
http://www.spiegelfechter.com/wordpress/
"Mit keinem Wort geht Franz Walter auf die Akteure innerhalb der SPD ein, die diese Partei in den Abgrund geführt haben. Es bleibt auch ausgespart, durch welchen politischen Kurs und mit welchen Mitteln das Führungspersonal diese Partei ruiniert hat."